Abstimmung im Bundestag: Für einen Kulturwandel in der Geburtshilfe — Frauen und Kinder in den Mittelpunkt

Am Donnerstag, 29.10.2020, wird im Deutschen Bundestag der Antrag der Fraktion Bündis 90/Die Grünen mit dem Titel Für einen Kulturwandel in der Geburtshilfe — Frauen und Kinder in den Mittelpunkt beraten und abgestimmt.

Ich habe mir das Dokument, das hier heruntergeladen werden kann, mal angeschaut und fasse die wichtigsten Punkte zusammen. (Auf der Seite der grünen Bundestagsfraktion gibt es ebenfalls eine Zusammenfassung.)

Das Dokument besteht aus drei Teilen:

  1. Feststellung der Situation
  2. Forderungen
  3. Begründung zu einzelnen Forderungen

Feststellung der Situation

Auf etwa drei Seiten stellt die Fraktion dar, wie die Lage in der Geburtshilfe momentan ist. Der Leitgedanke hierbei ist, dass die Art der Geburt Auswirkungen auf Gesundheit und Wohlbefinden aller Familienmitglieder hat — und zwar über die Geburt an sich hinaus.

Das Ziel ist es deshalb, eine „gute und persönliche Begleitung durch Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett“ zu bieten.

Zur Unterstützung ihrer Position nennt die Fraktion einige wissenschaftliche Quellen sowie auch Zeitungsberichte. Sie weist auch auf das Geburtshilfestärkungsgesetz hin, das der Deutsche Hebammenverband fordert (mehr dazu in einem späteren Beitrag). Da nicht alle Kompetenzen auf Bundesebene liegen, wollen die Grünen, dass der Bund in jedem Fall dort aktiv ist, wo er Gestaltungsspielraum hat. Darüber hinaus soll ein nationaler Geburtshilfegipfel alle entscheidenen Akteur*innen auch der kommunalen und Landesebene zusammenbringen.

Forderungen: Kulturwandel in der Geburtshilfe

Konrekt fordern die Grünen in ihrem Papier mehrere Änderungen der jetzigen Situation. Diese werden zunächst kompakt vorgestellt und später im Dokument noch ausführlich erläutert. Ich möchte an dieser Stelle auf Zitate des ausführlichen Stellungnahmen verzichten. Wer sie lesen mag, findet sie hier.

Das also sind die Forderungen:

  • 1:1-Betreuung in wesentlichen Phasen der Geburt
  • Veröffentlichungspflicht aller Krankenhäuser zu Hebammenschlüssel und Kaiserschnitt
  • Vergütung für spontante Geburten und Kaiserschnitte angleichen
  • hebammengeleitete Kreißsäle
  • Qualitätssicherung: einheitliche Dokumentation von klinischer und außerklinischer Geburtshilfe
  • Erfassung und Einzelfallanalyse von Müttersterbefällen
  • Aktionsprogramm Verhinderung Geburtsschäden sowie Register von (außer)klinischen Geburtsschäden und Risikofaktoren
  • Anspruch auf Hebammenhilfe verdeutlichen: Mitteilung im Mutterpass und verpflichtend durch Ärzt*innen
  • Tests von neuen Versorgungsmodellen in Regionen mit geringer Geburtenrate
  • Ausweitung der bezahlten Freistellung des*der Partner*in
  • bessere Aufklärung zu Selbstbestimmungsrechten und Anlaufstellen
  • Kostenausgleich bei guter Versorgung: Hebammengehalt wird teilweise refinanziert
  • Kampagne zu Vorteilen physiologischer Geburten
  • Ausbau der wissenschaftlichen Forschung, gerade in der Hebammenwissenschaft

Offene Fragen

Beim ersten Lesen habe ich mir gedacht: Klingt alles gut und sinnvoll. Auch nach mehrmaligem Lesen stimme ich den Zielen immer noch zu. Mir fehlen aber einige Aspekte:

Einbeziehung von Doulas, Stillberater*innen und Mütterpfleger*innen

In der Realität können wir uns Hebammen nicht von heute auf morgen backen. Wir können versuchen, den Mangel mittel- und langfristig zu beheben. Kurzfristig müssen andere Unterstützungsarten her. So kann die Unterstützung durch eine Doula während der Geburt oder durch Stillberater*innen und Mütterpfleger*innen nach der Geburt die Hebammen entlasten.

Vergütungen

Die Anpassung von Vegütungen ist nötig. Natürlich darf ein Kaiserschnitt nicht aus finanzieller Lukrativität durchgeführt werden. Natürlich müssen sich spontane Geburten mehr lohnen. Das reicht aber nicht. Außerdem müssten folgende Themen einbezogen werden:

  • Interventionen: Eine Spontangeburt ist nicht gleichzeitig interventionsarm. Interventionsarm bezieht sich schließlich auch auf kleine medizinische Maßnahmen wie CTGs, Zugängelegen, Schmerzmittel und so weiter. Ich bin nicht dafür, Frauen Schmerzen um der Schmerzen willen erleiden zu lassen. Ich bin aber dafür, dass Zugänge und CTGs nicht einfach immer vorsorglich passieren, „weil das eben so üblich ist“ — ganz ohne konkreten Grund.
  • Vergütung von Hebammen und Ärzt*innen: Auch hier müssen sich die Vergütungen angleichen. Neuerdings setzen schließlich beide Berufe ein Studium voraus. Und wenn wir langfrstig den Beruf attraktiver machen wollen, kommen wir um ein besseres Gehalt nicht herum
  • Kreißsäle lohnen sich nicht. Mit Kreißsälen (und Rettungsambulanzen) verdienen Krankenhäuser kein Geld. Okay, außer, du hast halt seeeehr hohe Kaiserschnittraten. Es stellt sich die Frage, ob die Krankenhäuser die Kreißsäle weiterhin durch die anderen Stationen „mitfinanzieren“ müssen, oder ob wir Möglichkeiten finden, die negative Spirale schließender Geburtsstationen zu stoppen.

Gewalt unter der Geburt

Leider wird das Thema Gewalt unter der Geburt nicht direkt thematisiert. Natürlich würden die viele Aspekte des Antrags sich vermutlich positiv auf die Vermeidung von gewaltvollen Geburtserfahrungen auswirken. Eine wirkliche 1:1-Betreuung (selbst nur in „entscheidenden Geburtsphasen“ hilft da vermutlich schon. Dennoch wäre der Antrag aus meiner Sicht noch stärker, wenn er explizit darauf zu sprechen käme, dass die jetzigen Strukturen Gewalt unter der Geburt fördern. Um dem Thema mehr Aufmerksamkeit zu schenken, habe ich übrigens eine Blogparade ins Leben gerufen. Beteiligt euch gern daran — auch, wenn ihr persönlich keine gewaltvollen Geburtserfahrungen gemacht habt. Hier geht es zur Blogparade.

Wertschätzung der Geburt

Ja, die Grünen sagen in der Einleitung, dass die Geburt wichtig für die gesamte Familie ist. Mir fehlt in dem Antrag trotzdem die Wertschätzung der Geburt als Lebensabschnitt. Das klingt nur immer zwischen den Zeilen durch, zum Beispiel beim Thema Selbstbestimmung.

was mir fehlt, ist eine klare Aussage dazu:

Die Art, wie wir mit den Schwächsten der Gesellschaft umgehen, zeigt den Wert unserer Gesellschaft als Ganzes. Ungeborene und Neugeborene sind vollkommen davon abhängig, dass ihr Umfeld sie beschützt. Es muss uns desalb wichtig sein, auch jenseits von ökonomischen Zielen den Schwangeren, Gebärenden, Neugeborenen und jungen Familien die bestmögliche Unterstützung zuteil werden zu lassen.

Moralische Grundlage für jegliche Reform der Geburtshilfe

Wertschätzung der Gebärenden

Gerne fasse ich an dieser Stelle auch zusammen, was ich bereits im Zuge der Reform der Hebammenausbildung geschrieben habe:

Wir brauchen gesetzliche Regelungen, die es Frauen ermöglichen, ohne Angst und selbstbestimmt zu gebären — und zwar durch Information, Aufklärung und Unterstützung.

Eine Frau soll die bestmögliche Versorgung erhalten, sagen die Grünen. Ja, das soll sie! Doch was ist die „bestmögliche Versorgung“? Ist das immer ein Perinatalzentrum Klasse I? Ist das immer eine Hausgeburt mit Doula? Ist das immer eine Wassergeburt? Immer die PDA gegen die Schmerzen?

Die Entscheidung über die bestmögliche Versorgung vor und während der Geburt muss die Gebärende fällen. Niemand sonst. Ja, das ist radikal. Deshalb habe ich es hier auch mal ausführlicher aufgeschrieben.

Fazit: Antrag der Grünen für einen Kulturwandel in der Geburtshilfe

Ja, der Antrag „Für einen Kulturwandel in der Geburtshilfe — Frauen und Kinder in den Mittelpunktgeht in die richtige Richtung“ — allerdings fast ausschließlich innerhalb des jetzigen Systems. Es ist eben kein neuer, radikaler Ansatz, der die Schwangere oder Gebärende einerseits als selbstbestimmt und andererseits deshalb auch als selbstverantwortlich sieht.

Es ist wohl eher ein „Kulturwändelchen“ statt eine echte Revolution.

Hebammengeleitete Kreißsäle, 1:1-Betreuung, bessere Vergütung: All das sind tolle Aspekte, so lange wir akzeptieren, dass die Frau prinzipiell die Verantwortung an der Krankenhaustür abgibt. „Du hast keine Ahnung, ab jetzt übernehmen wir deshalb für dich“. Unter dieser Voraussetzung ist es natürlich total sinnvoll, dass die übernehmende Hebamme dann auch tatsächlich Zeit hat für die Gebärende.

Eine wirkliche Revolution, ein wirklicher Kulturwandel in der Geburtshilfe wäre es, den Frauen bereits schon im Teenager-Alter mehr Körperbewusstsein zuzutrauen. Echte Entscheidungsgewalt auf Grundlage echter Selbstverantwortlichkeit. Nicht mehr weghören, sondern hinschauen. Geburten als eine Bastion feministischer Werte.

Klar, so lange wir Frauen diese Freiheit nicht einfordern, sondern uns innerhalb des Systems wohlfühlen, ist es sinnvoll, dieses System zu verbessern. Vielleicht ist es ein Schritt in die richtige Richtung. Überzeugt bin ich davon aber noch nicht. Zu weit weg scheint mir die Realität von meiner (persönlichen!) Idealvorstellung von feministischer Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft.

Deine Einschätzung

Wie siehst du den Antrag der Grünen? Was gefällt dir daran, was nicht? Und wie stehst du zu meiner Einschätzung? Ich freue mich auf deinen Kommentar.

2 Gedanken zu „Abstimmung im Bundestag: Für einen Kulturwandel in der Geburtshilfe — Frauen und Kinder in den Mittelpunkt“

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