(Vorweg: Ich bin nicht Mitglied einer Partei und berichte an dieser Stelle journalistisch unabhängig über die Bundestagsdebatte zur Geburtshilfe, konkret zum Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz (GPVG) für Hebammen. Am Ende gibt es dann — deutlich getrennt von der objektiven Zusammenfassung — meine eigene Meinung.)
Inhalt
Geburtshilfe in der Debatte im Bundestag
Am vergangenen Donnerstag stand das Thema Geburtshilfe auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages. Anlass war, so dachte ich zumindest, ein Antrag der Fraktion Bündnis90/Die Grünen mit dem Titel „Für einen Kulturwandel in der Geburtshilfe — Frauen und Kinder in den Mittelpunkt“ (Drucksache 19/19165) Dieser wurde als Teil des Tagesordnungspunktes 16 behandelt, in dem auch fünf weitere Anträge zu gesundheitspolitischen Themen gesammelt waren: Verbesserung der Gesundheitsversorgung und Pflege (Gesetzentwurf der Bundesregierung), Dokumentationspflicht bei Krebsvorsorge aussetzen (AfD-Antrag), Testzentren und Kostenübernahme von Corona-Tests (AfD-Antrag), Berücksichtigung von Kapitaleinkünften bei Krankenversicherungsbeiträgen (Antrag der Linken), Regionale Verankerung der Gesundheitsversorgung (Antrag der Grünen) .
Redner*innen in der Debatte zum GPVG
- Dr. Thomas Gebhart, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Gesundheit (CDU/CSU)
- Uwe Witt, AfD-Fraktion
- Bärbel Bas, SPD-Fraktion
- Nicole Westig, FDP-Fraktion
- Dr. Achim Kessler, Fraktion die Linke
- Dr. Kirsten Kappert-Gonther, Frakion die Grünen
- Lothar Riebsamen, CDU/CSU-
- Bettina Müller, SPD-Fraktion
- Erich Irlstorfer, CDU/CSU-Fraktion
Entsprechend der Sitzeverteilung im Parlament durften von der Unionsfraktion und der SPD also mehrere Menschen sprechen, von den anderen Fraktionen nur eine Person.
Was mir aufgefallen ist: Viele Männer kamen zu Wort. Das ist nicht unbedingt verwunderlich, weil erstens im Bundestag 488 Männer und nur 221 Frauen sitzen. Zweitens ging es durch die Bündelung der Anträge auch nicht nur um das Thema Geburten. Dennoch: Selbst bei manchen Frauen wurde das Thema nicht angeschnitten. Klar, es ist auch wichtig, dass sich Männer damit beschäftigen. Aufgefallen ist es dennoch: Die Geburtshilfe war als Teilaspekt im Plenum. Für einen eigenen Tagesordnungspunkt reichte es nicht.
Worum ging es in der Debatte zum GPVG?
Schnell abhandeln lassen sich die Beiträge von Uwe Witt von der AfD, Nicole Westig von der FDP, Dr. Achim Kessler von den Linken und Lothar Riebsamen von der CDU/CSU. Sie haben nämlich die Geburtshilfe gar nicht erwähnt sondern konzentrierten sich auf andere Aspekte des Regierungsentwurfs.
Die anderen Redner*innen erwähnten die Geburtshilfe.
Schade fand ich, dass die Beschreibungen sehr oberflächlich blieben. Namentlich genannt wurden die Geldsummen, mit denen nun einerseits mehr Hebammenstellen geschaffen werden sollen und andererseits Hilfskräfte eingestellt werden sollen. Das war es denn aber auch. Der schriftliche Antrag der Grünen war da schon ausführlicher, wie ich hier zusammengefasst habe.
In ihrer Rede ging Dr. Kappert-Gonther aber von den Grünen auf diesen Antrag aber nicht mehr detailliert ein. Vielmehr betonte sie, dass der Regierungsentwurf nur „ein Tropfen auf den heißen Stein“ sei. Stattdessen müsse auf einem Geburtshilfegipfel, der alle Beteiligten einbeziehe, ein Kulturwandel in der Geburtshilfe angestoßen werden. Ziel sei, „endlich Mutter und Kind in den Mittelpunkt der Geburtshilfe“ zu stellen.
Die Vertreter*innen der Regierungsfraktionen lobten selbstverständlich den Gesetzentwurf.
Dr. Gebhart sagte: „Pro 500 Geburten im Jahr in einer Klinik erhalten diese Kliniken jeweils eine halbe zusätzliche Hebammenstelle extra finanziert. Das führt zu 600 zusätzlichen Vollzeitstellen für Hebammen; das ist eine ganze Menge.“ Zusätzlich lobt Dr. Gebhart die 700 Stellen für Assistenzkräfte. Diese sollen die Hebammen zusätzlich entlasten.
Bettina Müller von der SPD ergänze: „Dieser Mangel an Klinikhebammen hat vielfältige Ursachen. Zwei davon geht dieser Gesetzentwurf an: Den Krankenhäusern werden zusätzliche Hebammenstellen finanziert, in nicht unerheblichem Umfang. 65 Millionen Euro pro Jahr geben wir zwischen 2021 und 2023 für 600 zusätzliche Hebammen-stellen. Und — ganz wichtig und auch von den Hebammen gewünscht — wir geben auch Geld für Unterstützungskräfte, die die Hebammen entlasten sollen. Beides verbessert natürlich die Arbeitssituation im Kreißsaal erheblich und macht den Kreißsaal als Arbeitsplatz attraktiver.“
Debatte zum GPVG (zu Hebammen und allem anderen) nachschauen
Übrigens gibt es zusätzlich zum Plenarprotokoll auch die Möglichkeit, die Videos der reden zu sehen. Entweder über diesen Link oder direkt unten über das Script des Deutschen Bundestages (wenn dein Browser keine fremden Scripte blockiert.)
Ausgangspunkt: Gesetz zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung und Pflege (Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz — GPVG)
Die Debatte habe ich nun zum Anlass genommen, mir auch den Gesetzentwurf der Bundesregierung anzuschauen. „Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung und Pflege (Gesundheitsversorgungs- und Pflegeverbesserungsgesetz — GPVG)“, so heißt er. Weil im Titel die Geburtsversorgung gar nicht vorkommt, war ich vorher nicht darauf zu kommen, mal nachzulesen. Das war selbstverständlich schlecht recherchiert und ich gelobe Besserung.
An dieser Stelle mache ich deshalb einen Schritt zurück und stelle den Gesetzentwurf inhaltlich vor.
Gesetzentwürfe sind immer nach dem gleichen Schema aufgebaut:
- Problem und Ziel
- Lösung
- Alternativen
- Haushaltsangaben ohne Erfüllungsaufwand
- Erfüllungsaufwand
- Weitere Kosten
Daran schließt dann der neue (zu verabschiedende) Gesetzestext an.
Ich erspare uns die bürokratischen Details und gehe den Gesetzentwurf deshalb nicht Punkt für Punkt durch. Stattdessen konzentriere ich mich auf die konkreten Änderungen, die erreicht werden sollen.
Danach stelle ich meine Meinung zur Diskussion und freue mich auf deinen Kommentar!
Was steht im Gesetzentwurf des GPVG?
Ziel
Ziel des entsprechenden Abschnitts im Gesetz ist die „bessere Versorgung von Schwangeren durch [die] Förderung zusätzlicher Hebammenstellen“. Hierzu soll ein Hebammenstellen-Förderprogramm aufgelegt werden, das im Krankenhausentgeltgesetz in einem neuer -§4 Absatz 10 festgeschrieben werden soll.
Dieses Förderprogramm soll den „Belastungsspitzen und Personalengpässen“ entgegenwirken und somit die „stationäre Hebammenversorgung von Schwangeren durch zusätzliches Personal“ verbessern.
Laufzeit
Konkret soll das Förderprogramm drei Jahre laufen, nämlich 2021 bis 2023. In dieser Zeit werden vom Bund zusätzliche Mittel bereitgestellt, um Neueinstellungen oder die Aufstockung von Teilzeitstellen zu fördern. Die Förderung bezieht sich auf Hebammen und unterstützendes Fachpersonal.
Finanzierung
Die Mittel für die Aufstockung kommen vom GKV, also vom Verband der gesetzlichen Krankenkassen. Im Grunde genommen also von uns allen, die wir in eine Krankenversicherung einzahlen. Als Größenordnung stehen „bis zu 58,5 Millionen Euro“ für mehr Hebammenstellen im Gesetzentwurf. Die Gesamtkosten sollen bei 200 Millionen Euro liegen. Das heißt, rund 141,5 Millionen Euro gehen nicht in neue Hebammenstellen, sondern in die Schaffung neuer Stellen für unterstützende Tätigkeiten.
Wirkung
Durch die zusätzlichen Stellen soll die Betreuungssituation der Gebärenden verbessert werden: Ein Hebammenbetreuungschlüssel von 1:2 soll die Regel sein; im Optimalfall soll er bei 1:1 liegen.
Ziele sind also zweiseitig: Einerseits soll die Versorgung der Schwangeren verbessert werden, andererseits sollen die Hebammen entlastet werden.
Meine Meinung zum Gesetzentwurf des GPVG (mit Fokus auf der Geburtshilfe)
Zunächst mal: Klar ist es gut, dass der Staat Geld in die Geburtshilfe investiert. Es gibt wirklich nutzloseren Einsatz von Steuermitteln.
Was aber bringen die Gelder?
Wo backen wir uns die Hebammen und Pflegekräfte?
Mehr Geld für Personal ist ein Schritt in die richtige Richtung. Schon lange plädieren viele Vereine und Initiativen genau hierfür. Elternverbände genauso wie Hebammenverbände sind sich einig: Mehr Hebammen sind ein Schritt in die richtige Richtung.
Nun ist es aber bei Hebammen nicht anders als bei anderen Fachkräften: Wir können sie nicht aus dem Hut zaubern. Es dauert, bis Hebammen ausgebildet werden. In einem Kreißsaal bei mir in der Nähe wurden deshalb vor einiger Zeit italienische Hebammen eingestellt. Dank Deutschintensivkurs war die Verständigung kein Problem. Der Ausbildungsstand war ebenfalls hoch. Dennoch hinterließ die Nachricht bei mir ein flaues Gefühl im Magen: Diese Hebammen fehlten jetzt vermutlich nämlich in der Geburtshilfe dort, wo sie ausgebildet worden waren. Ein klassischer Fall von Braindrain.
Um den Hebammenmangel langfristig zu beheben, braucht es deshalb mehr. Die Reform der Hebammenausbildung ist in dieser Hinsicht ein zweischneidiges Schwert: Einerseits wird der Kreis der zulässigen Bewerbungen eingeschränkt, weil nur noch Menschen mit Hochschulzulassung überhaupt diesen Berufszweig einschlagen können. Wie sich die Abbruchquoten der Studierenden im Vergleich zur früheren Ausbildung entwickeln werden, müssen wir abwarten. Andererseits bieten akademische Abschlüsse Potential für eine gute Vergütung. Finanziell könnte der Hebammenberuf also wesentlich attraktiver werden.
Die Auslagerung fremder Tätigkeiten wie Protokollierung oder Reinigung ist deshalb aus meiner Sicht ein wichtiger Schritt. Natürlich gilt auch hier: Wir können uns Fachpersonal nicht backen. Pfleger*innen sind bereits jetzt stark belastet und es kommen zu wenige nach. So weit ich weiß, herrscht auch kein Mangel an Arbeit für medizinische Fachangestellte in Verwaltungsberufen. Sprich: Mehr Geld ist toll, doch wenn es die Menschen nicht gibt, die den Beruf ausüben können, haben wir ein Problem.
(Exkurs: Ich kann es mir nicht verkneifen. Warum ist BWL eines der beliebtesten Studienfächer? Bestimmt nicht, weil die Studierenden den Unterschied zwischen EBIT und EBITDA so spannend finden. Wer es doch spannend findet, hat einen Gastartikel hier im Blog gewonnen 😉 BWL bietet vielmehr die Möglichkeit, gutes Geld zu verdienen, selbst, wenn es nicht die eigene Leidenschaft ist. Und gesellschaftlich anerkannt sind Manager auch meist (steile These, oder?). Schön zusammen fasst das Bodo Wartke im Lied Das falsche Pferd: „Betriebswirt oder Jurist wird dann nur noch der wer es wirklich gerne ist“ (Link zu Youtube). Deshalb: Wir alle fangen ab sofort damit an, medizinischem Personal mehr Respekt zu zollen. Gesellschaftliche Anerkennung in Wort, Tat und Geldbeutel. Amen. Exkurs beendet.)
Gewisse Aspekte der Arbeiten von Hebammen könnten tatsächlich ausgelagert werden.
- Physiotherapie für Rückbildung: Vor einiger Zeit sprach ich mit einer Hebamme, die betonte, dass manche Physiotherapeut*innen eigentlich bessere Rückbildungskurse gäben als manche Hebammen. Ich finde, diesen Aspekt könnte man weiterspinnen. Physiotherapeut*innen haben jetzt schon vielfältige Möglichkeiten, sich weiterzubilden. Eine Weiterbildung im Bereich Rückbildung nach Geburt ist da für mich kein großer Schritt. Klar: So etwas braucht auch Zeit in der Konzeption und Umsetzung. Es muss sich für die Therapeut*innen auch finanziell lohnen. Doch es wäre ganz bestimmt eine Möglichkeit.
- Mütterpflege, Doulas, Stillberater*innen: Meine Hebamme war meine Stillberaterin. Sie hat eine großartige Arbeit geleistet. Sie hatte die Zeit dafür, denn sie hat mich zu Hause betreut. Im Krankenhauskontext, aber auch später zu Hause, können Stillberater*innen hier entlasten. Ähnliches gilt für Doulas und Mütterpfleger*innen oder Familienpfleger*innen. Viele Menschen leisten wertvolle Dienste für junge Familien. Manche von ihnen können Hebammen sinnvoll entlasten. Sie werden aber im Gesetzentwurf nicht genannt.
- Ein Wort zur Aufstockung: Die Aufstockung löst die Probleme nicht. Viele Hebammen und Pflegekräfte arbeiten bereits mit ihren jetzigen Wochenstunden an der Grenze der eigenen Belastbarkeit. Es ist utopisch, diesen Menschen einfach zu sagen: Hier, du bekommst mehr Geld, arbeite mehr! Die Lebensqualität wird dadurch nicht steigen.
Verwaltungsvorschriften
Was, wenn die Mittel nicht abgerufen werden?
Was passiert mit dem vielen Geld, wenn die Mittel nicht abgerufen werden? Wenn die Krankenhäuser also die vielfältigen Verwaltungsvorschriften nicht erfüllen und das Geld deshalb bis zum Ende des Projektes (Ende 2023) nicht abgerufen werden, ist eine erneute Gesetzesänderung nötig, um die Mittel weiterhin einsetzen zu können.
Große Krankenhäuser profitieren mehr
Die Regierung sieht den Handlungsbedarf vor allem im städtischen Gebiet und in großen Krankenhäusern. Dort sah die zitierte Studie eine zeitweise Unterversorgung. Diese Kliniken sollen deshalb nun profitieren. In ländlichen Räumen wird wenig Handlungsbedarf gesehen. Und das bedeutet vermutlich auch, dass wir durch das Gesetz die Schließung weiterer Geburtsstationen nicht ändern. Außer Acht gelassen wird natürlich, dass die Schließung von Geburtsstationen im Speckgürtel oder in ländlichen Gebieten dazu führt, dass die Krankenhäuser in der Stadt umso mehr Geburten betreuen müssen.
Und andere Kritik?
Andere Kritik am konkreten Gesetzentwurf
- Es geht ausschließlich um die stationäre Geburtshilfe. Die außerklinische Geburtshilfe wird im Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht mit einem Wort erwähnt.
- Hebammengeleitete Kreißsäle kommen nicht vor. Strukturell ändert sich also nichts: Die Ärzt*innen leiten die Kreißsäle.
- Der Gesetzentwurf fördert Beleghebammen nicht. Beleghebammen sterben weiterhin aus. Daran wird dieser Gesetzentwurf nichts ändern.
- Bedarfsnotwendige Krankenhäuser und Kreißsaalschließung: Bereits jetzt können Krankenhäuser Zuschüsse erhalten, wenn ihre Geburtsstation als bedarfsnotwendig angesehen wird. https://www.g-ba.de/themen/bedarfsplanung/sicherstellungszuschlaege/ Das sollte der Kreißsaalschließung entgegenwirken. Inwieweit es tatsächlich nutzt, werde ich in einem späteren Artikel analysieren. Die Problematik von Kreißsaalschließungen wird im Gesetzenwurf zumindest nicht thematisiert.
- Prinzipielle Unterversorgung mit Hebammen wird negiert. „In einem vom Bundesministerium für Gesundheit beauftragten Gutachten zur Situation der Geburtshilfe in Krankenhäusern wurde aufgezeigt, dass es zwar keinen generellen Hebammenmangel gibt, die Betreuungsrelationen von Hebammen und Schwangeren jedoch regional sehr unterschiedlich sind und es gerade auf den großen Geburtsstationen insbesondere in Großstädten immer wieder zu Belastungsspitzen und Personalengpässen kommen kann.“ So steht es in der Gesetzesbegründung. Das sehen manche andere Organisationen anders, zum Beispiel Mother Hood e.V. Auch der Deutsche Hebammenverband ist da anderer Meinung und hat eine Karte der Unterversorgung online gestellt.
- Zusammenarbeit von Ärzt*in, Doula, Hebamme: Das habe ich oben schon erwähnt. Ich begrüße, dass die Hebammen entlastet werden sollen. Die Negierung von Doulas, Stillberatungen und ähnlichen Berufsgruppen geht allerdings an der Wirklichkeit vorbei.
- Gewalt unter der Geburt kommt nicht vor: Die Rede ist von Überlastung und guter Betreuung. Leider ist Gewalt unter der Geburt aber ein wichtiges Thema. Vielleicht wird die Aufstockung des Personals hier einen positiven Aspekt haben. Vielleicht auch nicht. Systemisch ändert sich hier erstmal nichts. Mehr zum Thema Gewalt in der Geburtshilfe findest du auch hier.
Die Meta-Ebene: Kritik jenseits der konkreten Vorhaben
Bereits in meiner Einschätzung des Antrags der Grünen befand ich, dass die Änderungsvorschläge alle am Kern der Sache vorbeigehen: Geburt ist eine Möglichkeit zur (feministischen) Ermächtigung. Die wird kaum wahrgenommen. Wir geben die Verantwortung für die Geburten unserer Kinder ab.
Unter der Prämisse, dass wir das in Ordnung finden, ist mehr Personal natürlich schon mal ein guter Schritt. Selbst, wenn wir uns innerhalb dieses Systems bewegen wollen, hat das Gesetzesvorhaben aber einige Lücken auf Meta-Ebene, also aus einer Vogelperspektive, die über den konkreten Vorschlagstext hinaus geht.
- „Reden Sie doch nicht so einen Unsinn!“ Besonders negativ aufgefallen ist mir in der Debatte ein Zwischenruf von Erich Irlstorfer von der CSU. Auf die Forderung „Wir brauchen nicht weniger als einen Kulturwandel in der Geburtshilfe, damit endlich Mutter und Kind in den Mittelpunkt der Geburtshilfe gestellt werden“ von Dr. Kirsten Kappert-Gonther reagierte er mit den Worten: „Reden Sie doch nicht so einen Unsinn!“ Ich werde Herrn Irlstorfer hierzu noch eine Mail schreiben und ihn fragen, was genau er daran als Unsinn sieht. Vielleicht meinte er es ja gar nicht so, wie es im ersten Augenblick scheint.
- Die Rede ist immer von Schwangeren, nicht Gebärenden. Das finde ich persönlich komisch, weil es ja explizit um Geburtshilfe und Betreuung unter der Geburt geht, statt um Vor- und Nachsorge. Vielleicht liegt es daran, dass das Wort „Gebärende“ den Fokus auf die Frau als Subjekt legt. Sprachlich ist das verwendete Gerundium eine Beschreibung der Tätigkeit. Die Frau gebiert das Kind. „Schwangere“ dagegen ist eine Zustandsbeschreibung ohne Hinweis auf Aktion.
- Lange Ausführung über die Regulatorien der Feststellung und Abrechnung der neuen Stellen: Während die Feststellung der Situation nur ein paar Zeilen Text einnimmt, brauchen die Verwaltungsvorschriften mehrere Absätze. Einerseits ist das gerechtfertigt (es sollen ja keine Steuergelder verschwendet werden), andererseits zeigt es doch, dass die Geburtshilfe eben nur bedingt an den Bedürfnissen der Familien orientiert ist. Vielmehr geht es um die Umsetzung der Geburtshilfe in unserem Wirtschaftssystem.
- Die Krankenhäuser haben gerade wegen Corona andere Sorgen. Es ist fraglich, ob die Verwaltung die Mehrbelastung gerade überhaupt schultern kann. Somit wird eine schnelle Entlastung vermutlich nicht eintreten.
Fazit: Kulturwandel in der Geburtshilfe? Was lernen wir aus der Debatte, dem Gesetzentwurf und dem Antrag der Grünen?
Aus der Debatte, dem Gesetzentwurf der Bundesregierung und dem Antrag der Grünen Bundestagsfraktion nehme ich vor allem eines mit:
Das staatliche System der Geburtshilfe ist darauf ausgelegt, Gebärenden die Verantwortung für ihre Geburt abzusprechen.
Innerhalb dieses Rahmens werden nun Verbesserungen angestrebt. Allerdings geht es immer nur darum, das bestehende System ein wenig leistungsfähiger zu machen. Der Antrag der Grünen geht zwar an wichtigen Punkten über den Gesetzentwurf der Bundesregierung hinaus (z.B. in Bezug auf die außerklinische Geburtshilfe), bewegt sich aber ebenfalls auf der grundlegenden Annahme, dass die Verantwortung für eine gute Geburt beim Fachpersonal liege.
Dieses Fazit werde ich in einem weiteren Artikel nochmals ausführlicher behandeln — vermutlich im Zusammenhang mit der zweiten und dritten Lesung des Gesetzentwurfes. Denn dann wird das Thema Geburtshilfe im Parlament wieder aktuell sein. Der Termin für diese Sitzung steht bisher (Stand: 3.11.2020) noch nicht fest. Zuerst wird er im Gesundheitsausschuss beraten.
Quellenangaben
Alle Zitate aus Reden sind im stenografischen Bericht der 186. Sitzung des Deutschen Bundestages in der 19. Wahlperiode nachzulesen. Dieser ist hier verfügbar. Alternativ kannst du dir hier auch die Plenarreden als Video anschauen: Videos auf den Seiten des Bundestages.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist als unter Drucksache 19/23483 zu finden, zum Beispiel hier.
Der Antrag der Grünen zum Kulturwandel in der Geburtshilfe hat die Drucksachennummer 19/19165 und ist hier nachzulesen.
Deine Meinung
Wie stehst du zum Gesetzentwurf, zum Antraf der Grünen, zu meiner Analyse und zur Situation der Geburtshilfe? Schreib mir eine Email oder hinterlass mir einen Kommentar!