Schon vor Ewigkeiten bekam ich ein Rezensionsexemplar des Ullstein-Verlages von Nora Imlaus Buch „In guten Händen“. Und nun endlich kommt meine Rezension dazu.
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Um denjenigen gerecht zu werden, die sich mit den Worten „Frau“ oder „Mutter“ nicht identifizieren können, obwohl in ihrer Geburtsurkunde „weiblich“ steht, habe ich mich dazu entschlossen, in meinen eigenen Beiträgen „Mutter“ und „Frau“ jeweils mit dem Inklusionssternchen zu versehen. Ihr werdet also Frau* oder Mutter* lesen (falls der Text von mir kommt und nicht von anderen Menschen). Geschlechtergerechte und inklusive Sprache ist mir ein Herzensthema, allerdings ist (meine persönliche und die gesellschaftliche) Entwicklung dazu noch lange nicht abgeschlossen. Mal sehen, wie ich es in Zukunft angehe. Mehr zum Thema liest du unter anderem hier: Sollte ein Geburtsblog geschlechtsneutral sein, Gebären wie eine Feministin und Sex, Gender, Geburten und die deutsche Sprache.
Verzögerung – Ein kurzer Satz vorneweg
Warum kommt die Rezension erst jetzt, obwohl das Buch doch schon recht lange hier liegt und schon vor Ewigkeiten gelesen wurde? Ganz einfach: Ich habe dieses Buch aufgesogen, sogar mehrfach, und wollte, dass die Rezension perfekt würde.
Vermutlich gäbe es die Rezension bis heute nicht, wenn mir nicht verschiedene Menschen mehrmals liebevoll in den Hintern getreten hätten.
Nun aber ist sie hier. Sie ist natürlich, Überraschung, nicht perfekt. Insofern: Ich bin gerne offen für Verbesserungsvorschläge und Ergänzungen! 🙂 Immer her damit.
Ich habe beschlossen, das Buch kapitelweise zu rezensieren. Zuerst folgt hier also ein Überblick, danach kommt dann die kapitelweise Rezension.
Und weil ich festgestellt habe, dass über 82.000 Zeichen im Text vermutlich selbst für die Leser*innen dieses Blogs recht viel für einen einzigen Blogpost sind, habe ich die Rezension aufgeteilt.
Alle Teile erscheinen nacheinander und sind dann hier verlinkt:
In guten Händen: Alle Teile der Rezension
(bitte zum Lesen aufklappen)
- Teil 1: (hier lesen)
- Überblick
- Einleitung
- Kapitel 1: Ein Dorf für uns und unser Kind
- Teil 2:
- Kapitel 2: Auf die Bindung kommt es an
- Kapitel 3: Familie und Freundeskreis (Einleitung, Bezugspersonen von Babys)
- Teil 3:
- Kapitel 3: Familie und Freundeskreis (Fortsetzung bis Kapitelende)
- Teil 4:
- Kapitel 4: Was prägt uns in der Betreuungsfrage? Eine Spurensuche
- Teil 5:
- Kapitel 5: Unseren Weg als Familie finden
- Teil 6:
- Kapitel 6: Ein guter Ort für unser Kind
- Teil 7:
- Kapitel 7: Es geht los
- Teil 8:
- Kapitel 8: Neue Beziehungen: Schule und Kinderfreundschaften
- Teil 9:
- Der Schluss: Ein Netz, das trägt
- Meine Meinung: In guten Händen
- Fazit
Überblick: In guten Händen von Nora Imlau
Wir müssen nicht alles alleine schaffen – das ist die Überschrift der Einleitung und damit ist dann auch eigentlich das Wichtigste schon gesagt. In guten Händen handelt davon, dass Erziehungsratgeber für Eltern durchaus sinnvoll sind, aber eben nicht das ganze Bild unseres Lebens. Kinder wachsen nicht nur mit Eltern auf (und erst recht nicht nur mit der Mutter*), sondern werden von vielen Menschen geprägt. Wir können diese Prägungen und Bindungen entweder bewusst gestalten oder eben auch nicht.
Das Buch beginnt mit verschiedenen Mythen, die wir uns in den letzten paar Generationen zurechtgelegt haben, und die meist den Fokus darauf setzen, dass ausschließlich die leibliche Mutter* ein Kind angemessen in der ersten Lebenszeit betreuen könnte.
Danach geht Nora Imlau auf die Erkenntnisse der Bindungsforschung ein: Wie entsteht Bindung, und wie ändern sich die Bedürfnisse von Säuglingen, Kleinkindern, Schulkindern, Teenagern bis hin ins Erwachsenenalter?
Im dritten Kapitel geht es dann nochmal um den engsten Kreis von Bezugspersonen: Um die Familie und enge Freund*innen. Dabei werden auch die Großeltern nicht außen vor gelassen – ein Thema, das in manchen Familien durchaus immer wieder für Herausforderungen sorgt.
Im vierten Kapitel geht die Autorin auf Spurensuche und fragt sich, woher eigentlich unsere Weltbilder bezüglich angemessener Kinderbetreuung kommen. Ein Aspekt dabei ist die unterschiedliche Prägung von Menschen, die in der DDR aufwuchsen zu denjenigen, die in der Bundesrepublik aufwuchsen.
Nach dieser Spurensuche wird es wieder persönlicher: In Kapitel 5 geht Nora Imlau darauf ein, welche Betreuungsmöglichkeiten es grundsätzlich gibt. Das letzte Unterkapitel in diesem Abschnitt trägt die wegweisende Überschrift: Fast jede Lösung kann eine gute sein.
Die Betreuung außerhalb der eigenen Familie bekommt dann in Kapitel 6 nochmal gesonderte Aufmerksamkeit. Dabei geht es um Kindertagesstätten und Tagespflege und um die Frage, welche Kriterien für uns bei der Auswahl eine Rolle spielen sollten.
Auf die Auswahl folgt dann in den meisten Fällen die Umsetzung. Sprich: Wenn wir uns entschieden haben, soll das Kind dann irgendwann auch dort betreut werden. Wie Familien diese Wechsel im Alltag am besten umsetzen, beschreibt Nora Imlau im siebten Kapitel des Buches.
Auch die kleinsten Säuglinge werden irgendwann Schulkinder. Die Betreuungsoptionen ändern sich damit dramatisch, und Bindung bekommt eine ganz andere Form. Um die Umstellung zur Schule, um Kinderfreundschaften und die Wertvorstellungen anderer Menschen geht es in diesem letzten Kapitel.
Den Schluss bildet das Kapitel „Ein Netz, das uns trägt“. Darin geht die Autorin abschließend darauf ein, dass ein Dorf für alle da sein sollte: Für die Kinder, aber auch für uns als Eltern.
Spring jetzt gerne zu derjenigen Kapitelrezension, die dich am meisten interessiert, oder lies einfach die Zusammenfassungen aller Kapitel von oben nach unten.
Kapitel 0: Die Einleitung
Ja, auch die Einleitung bekommt noch mal eine eigene kleine Rezension, die allerdings einfach nur aus meinen drei persönlichen Highlights aus diesem Kapitel besteht:
Ein Kind ins Leben zu begleiten bedeutet nicht nur, Liebe, Fürsorge und Verbundenheit zu geben. Es ist auch unbeschreiblich harte Arbeit, sowohl körperlich als auch emotional.
Nora Imlau: In guten Händen, Seite 13
Natürlich sind wir Eltern für unser Kind unersetzlich. Die Frage ist nur, ob das im Umkehrschluss bedeutet, dass niemand anderes für unser Kind auch gut sein kann?
Nora Imlau: In guten Händen, Seite 17
Keine Studie und kein Forschungsergebnis der Welt kann sagen, was für eine individuelle Familie der richtige Weg ist, Bindungen und Beziehungen zu gestalten.
Nora Imlau: In guten Händen, Seite 18
Auch in diesem Jahr gibt es einen Geburtsgeschichten-Adventskalender und ein paar Adventsverlosungen. Sei dabei!
Kapitel 1: Ein Dorf für uns und unser Kind
Bevor es um die konkrete Situation in der Familie geht, beschreibt Nora Imlau in diesem Kapitel die gesellschaftlichen Dimensionen der Kinderbetreuung, und wie wir diese wahrnehmen. Sie geht darauf ein, dass es keinen gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, wie man mit Kindern umgehen sollte. Das gibt uns Freiheiten und Möglichkeiten, aber es kann auch verwirren und dazu führen, dass wir uns immer wieder fragen, ob wir nun wirklich die beste Option gewählt haben.
So schwer es uns fällt, müssen wir einsehen, dass wir Eltern, obwohl wir in einer Gesellschaft aufgewachsen sind, in der die persönliche Entfaltung, aber auch die Verantwortung für dieses Leben im Mittelpunkt steht, unsere Kinder nicht ganz allein großziehen können. Unsere Kinder werden Kontakt zu anderen Menschen haben. Wir müssen damit leben, Verantwortung und Kontrolle abzugeben. Selbst, wenn es um unsere eigenen Kinder geht.
Kontakt zu anderen Menschen ist nicht nur eine logistische Notwendigkeit, sondern sogar nötig, führt die Autorin aus:
Wir alleine reichen nicht aus. Denn der Motor für menschliche Entwicklung sind Begegnungen und Erfahrungen mit unterschiedlichen Menschen innerhalb und außerhalb de eigenen Kernfamilie – mit uns Eltern als sicherem Hafen im Hintergrund.
Nora Imlau: In guten Händen, Seite 24
Der Unterschied zu früher ist dabei gleichzeitig ein Segen und eine Herausforderung: Es gibt die „schicksalshafte Dorfgemeinschaft“ (S. 25) nicht mehr, sondern unser Dorf ist eine „Mischung aus Gewachsenem und Gewähltem“ (S. 26).
Wir dürfen uns darüber klar werden, dass es Hauptbindungspersonen gibt und Personen, die durch ihr unterstützendes Netzwerk passgenaue Entlastung bieten, dass beides seine Berechtigung hat und dass sich die Rollen von Einzelpersonen in diesem Netzwerk durchaus mit der Zeit ändern werden.
Dabei sollten wir nicht den Anspruch an uns haben, alle Leute lieben zu müssen, die mit unserem Kind in Kontakt kommen. Aber ein vertrauensvolles Verhältnis, das auf gegenseitigem Respekt beruht – das sollte unser Leitstern sein.
Nora Imlau: In guten Händen
Besonders wichtig finde ich in diesem Kapitel, dass Nora Imlau das „Dorf“, das ein Kind großzieht, nicht nur als hübschen Kalenderspruch abtut, aber die Eltern dennoch die komplette Verantwortung allein tragen. Stattdessen sieht sie die Gesellschaft in der Pflicht, Eltern zu unterstützen. Jede Familie hat das Recht auf angemessene Unterstützung, und bei der Auswahl dieser Unterstützung sollten wir pragmatisch davon ausgehen, was schon da ist.
Als nächstes geht Nora Imlau auf einen der gängigsten Mythen zur Bindung von Eltern und Kindern ein, nämlich auf den Mythos, dass die Menschen in der Steinzeit keine (andauernde) Betreuung durch andere Menschen gekannt hätten und deshalb nur die leibliche Mutter* einen Säugling angemessen versorgen könnte. Ihr Fazit ist, dass schmerzliche Trennungen beim täglichen Überlebenskampf in der Wildnis praktisch vorprogrammiert waren, und dass unser Verständnis von der Steinzeit im Lichte ihrer Entdeckungsphase gesehen werden müssen: Als im 18. und 19. Jahrhundert die Forschung begann, passte es einfach gut ins Bild, dass Frauen* sich angeblich schon immer voranging um die (eigenen) Kinder gekümmert hätten.
[In diesem Zusammenhang möchte ich dir ein wunderbares Kinderbuch empfehlen, und zwar Wie wir Menschen die Welt eroberten* von Yuval Noah Harari. – Wenn es mindestens drei Kommentare hierzu unter diesem Blogpost gibt, gehe ich die Rezension an.]
Wie unterschiedlich Kinder heutzutage aufwachsen, beschreibt Nora Imlau im nächsten Abschnitt. Dabei gibt es sowohl Kulturen (auch so genannte Naturvölker), in denen kleine Kinder fast ausschließlich von der leiblichen Mutter* großgezogen werden, als auch Kulturen, in denen die Kinder von vornherein mehrere Bindungspersonen haben.
Sie fasst zusammen:
„Die Sehnsucht vieler heutiger Eltern, ihren artgerechten „Clan“ wiederzuentdecken, sagt wenig darüber aus, wie unsere Vorfahr*innen gelebt haben und ob das besser war als unser Leben heute.“
Nora Imlau: In guten Händen, Seite 35
Genauso wie es heute in unterschiedlichen Kulturen unterschiedliche Herangehensweisen gibt, gab es diese unterschiedlichen Herangehensweisen auch zu unterschiedlichen Zeitpunkten in der Geschichte der Menschheit. Und häufig hören wir von anderen (oder denken es vielleicht selber), dass früher doch alles besser gewesen sei. Diesem Argument geht die Autorin auf den Grund. Die für mich wichtigsten Argumente sind:
- Das eigene Dorf zu bauen war schon immer für diejenigen am einfachsten, die genügend finanzielle Mittel hatten, um sich ihre Unterstützung einzukaufen. Möglichkeiten zur Unterstützung sind ungleich verteilt und diese Unterschiede sind strukturell bedingt (beruhen also nicht auf deinem persönlichen Einsatz). Deshalb hängen nicht nur Bildungschancen, sondern auch Bindungserfahrungen von der sozialen Herkunft ab – ein unhaltbarer Zustand!
- Unser Netz heute lebt von unseren modernen Vorstellungen von Verbundenheit. Verwandte, Wahlverwandte, Freund*innen und bezahlte Kräfte wirken Hand in Hand.
- Unser eigenes Dorf zu bauen und Unterstützungsangebote zu schaffen ist auch dann sinnvoll, wenn es gar nicht konkret um die Betreuung unserer Kinder geht. Dazu sagt sie:
„Unser Bindungsnetz ist nicht einfach ein Synonym für Kinderbetreuung, sondern ein soziales Netz, das auch uns Eltern bei alltäglichen Aufgaben entlastet.“
Nora Imlau: In guten Händen, Seite 42
Diese Entlastung bei alltäglichen Aufgaben in der Babyzeit ist für viele Eltern zunächst gar nicht so selbstverständlich. Denn häufig haben wir gerade beim ersten Kind noch gar keine Vorstellung davon, welche Unterstützung uns wirklich Entlastung bieten würde. So kommt es vielleicht, dass das lieb gemeinte Angebot „ich nehme dir gerne mal das Baby ab“ (von Großeltern, Freund*innen oder auch ehrenamtlichen Familienhilfen) zu einem inneren Konflikt führt: Eigentlich will man das Baby nämlich vielleicht gar nicht abgeben, sondern es lieber auf dem Arm behalten und der anderen Person den Besen in die Hand drücken. Die Erwartungshaltung der anderen ist aber vielleicht genau andersherum… Es gilt also, in dieser emotional so aufregenden Zeit auch noch klar die eigenen Grenzen zu kommunizieren – nicht immer einfach.
Der zweite Teil der Rezension erscheint nach meinem Geburtsgeschichten-Adventskalender im Januar. Falls du daran erinnert werden möchtest, trag dich gern in meine News-Updates ein.
Wöchtenliche Updates zu neuen Beiträgen
Katharina Tolle
Wie schön, dass du hier bist! Ich bin Katharina und betreibe seit Januar 2018 diesen Blog zu den Themen Geburtskultur, selbstbestimmte Geburten, Geburtsvorbereitung und Feminismus.
Meine Leidenschaft ist das Aufschreiben von Geburtsgeschichten, denn ich bin davon überzeugt, dass jede Geschichte wertvoll ist. Ich helfe Familien dabei, ihre Geschichten zu verewigen.
Außerdem setze ich mich für eine selbstbestimmte und frauen*-zentrierte Geburtskultur ein. Wenn du Kontakt zu mir aufnehmen möchtest, schreib mir gern!