Dies ist Teil 2 der Buchrezension von „in Guten Händen“ von Nora Imlau. Unten findest du auch die Links zu allen Teilen der Rezension.
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Um denjenigen gerecht zu werden, die sich mit den Worten „Frau“ oder „Mutter“ nicht identifizieren können, obwohl in ihrer Geburtsurkunde „weiblich“ steht, habe ich mich dazu entschlossen, in meinen eigenen Beiträgen „Mutter“ und „Frau“ jeweils mit dem Inklusionssternchen zu versehen. Ihr werdet also Frau* oder Mutter* lesen (falls der Text von mir kommt und nicht von anderen Menschen). Geschlechtergerechte und inklusive Sprache ist mir ein Herzensthema, allerdings ist (meine persönliche und die gesellschaftliche) Entwicklung dazu noch lange nicht abgeschlossen. Mal sehen, wie ich es in Zukunft angehe. Mehr zum Thema liest du unter anderem hier: Sollte ein Geburtsblog geschlechtsneutral sein, Gebären wie eine Feministin und Sex, Gender, Geburten und die deutsche Sprache.
Alle bisher erschienenen Teile der Serie findest du hier verlinkt:
In guten Händen: Alle Teile der Rezension
(bitte zum Lesen aufklappen)
- Teil 1: (hier lesen)
- Überblick
- Einleitung
- Kapitel 1: Ein Dorf für uns und unser Kind
- Teil 2: (hier lesen)
- Kapitel 2: Auf die Bindung kommt es an
- Kapitel 3: Familie und Freundeskreis (Einleitung, Bezugspersonen von Babys)
- Teil 3:
- Kapitel 3: Familie und Freundeskreis (Fortsetzung bis Kapitelende)
- Teil 4:
- Kapitel 4: Was prägt uns in der Betreuungsfrage? Eine Spurensuche
- Teil 5:
- Kapitel 5: Unseren Weg als Familie finden
- Teil 6:
- Kapitel 6: Ein guter Ort für unser Kind
- Teil 7:
- Kapitel 7: Es geht los
- Teil 8:
- Kapitel 8: Neue Beziehungen: Schule und Kinderfreundschaften
- Teil 9:
- Der Schluss: Ein Netz, das trägt
- Meine Meinung: In guten Händen
- Fazit
Kapitel 2: Auf die Bindung kommt es an
In diesem Kapitel macht Nora Imlau deutlich, dass unsere Eltern- und Großelterngeneration ihre Kinder auf eine Weise erzogen, die sicherstellen sollte, dass die Kinder in dem entsprechenden gesellschaftlichen System überleben könnten. Sie fasst die Vorstellungen dieser Elterngeneration von den Bedürfnissen ganz kleiner Kinder so zusammen: Ruhe, Regelmäßigkeit, Reinlichkeit. So wurden Kinder dann zum Beispiel nach der Uhr gestillt.
Die Autorin beschreibt, wie sich dieses Bild in den letzten 70 Jahren gewandelt hat hin zu der Prämisse, dass Bindung im Mittelpunkt der Bedürfnisse von Menschen steht, und zwar auch schon bei Säuglingen (natürlich ist die Ausprägung von Bindungserfahrungen in diesem Alter anders als in anderen Altersstufen).
Entgegen früherer Maßnahmen ist die heutige Bindungsforschung klar der Meinung, dass…:
der Aufbau und die Pflege von Bindungen nichts mit dem Geschlecht zu tun haben, sondern allein mit den Verhaltensweisen und Erlebnissen der jeweils miteinander in Beziehung stehenden Personen.
Nora Imlau: In guten Händen, Seite 54
Sie beschreibt 9 Merkmale von Bindungen, die sie jeweils noch genauer ausführt. Ich nenne die einzelnen Merkmale hier nur:
- Ohne Bindung geht es nicht
- Nicht jede Bindung ist gleich stark
- Bindung ist nicht gleich Bindung (es gibt vier Typen von Bindungen: sicher, unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent, desorganisiert)
- Kinder sind dafür gemacht, sich an mehrere Menschen zu binden
- Jede Bindung ist einzigartig
- Eine sichere Bindung ist kein Hexenwerk
- Bindung entsteht in bindungsrelevanten Situationen
- Bindung ist immer geprägt von den Umständen
- Bindung hört niemals auf.
Genau diesen neunten Punkt greift die Autorin auf, wenn sie im folgenden Unterkapitel darauf eingeht, dass sich Bindungsbedürfnisse verändern, und sich grundsätzlich am Entwicklungsstand des individuellen Kindes orientieren sollten.
Bindung von Babys
Im folgenden Abschnitt beschreibt sie detailliert, welche Art von Bindung Säuglinge brauchen. Die Quintessenz für mich ist, dass eine einzige feinfühlige Bindungsperson für Babys ausreicht, es aber durchaus mehr sein dürfen. Und da Nora Imlau auch aufzeigt, dass die Bindungsqualität zwischen Säugling und Bezugsperson auch stark davon abhängt, wie gut es dieser Bezugsperson geht, ist für mich klar: Eine Mutter oder ein Vater, die sich aufopfern, weil sie meinen, nur sie allein könnten die einzige Bezugsperson für das Baby sein, schaden sich auf Dauer eher selber – und damit auch ihrem Baby.
Das klassische Elternzeitmodell (sie nimmt ein Jahr; er nimmt das, was der Gesetzgeber dann noch so an Elterngeld drauf gibt), das ja oft gewählt wird, weil das Baby angeblich nur mit einer einzigen Person eine Bindung aufbauen kann, kann dazu führen, dass diese Bezugsperson vereinsamt. Und das wiederum kann sich negativ auf die Bindung zum Säugling auswirken.
Anders formuliert: Lieber hat das Baby eine primäre enge Bezugsperson und auch weitere enge Bezugspersonen, sodass die primäre Bezugsperson auch Zeit hat, die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen. In den ersten Lebensmonaten ist der Effekt des Dorfes um die Familie auf das Baby also eher indirekt, indem die Eltern entlastet werden. Später ist der Vorteil dann auch direkt spürbar: Dann profitiert es im Beisein sicherer Bindungspersonen von dem Austausch mit anderen Menschen.
Bindung nach der Babyzeit
In den folgenden Abschnitten beschreibt die Autorin den Wechsel vom Baby- zum Kleinkindalter und dann zur Schulzeit. Ab einem Alter von etwa 5 Jahren verstehen Kinder, dass ihre eigene Weltsicht nicht unbedingt diejenige von anderen Menschen ist. In diesem Alter sind andere Kinder wichtige Ideengeber*innen, sodass hier nicht nur der Austausch mit Erwachsenen, sondern auch mit Gleichaltrigen wichtig ist. Im Schulalter dann wird es wichtiger, sowohl andere Kinder als auch Erwachsene im Umfeld zu haben, um zu sehen, wie man selber sein will und wie man auf keinen Fall sein will. Studien legen nahe, dass Kinder gestärkt werden, wenn sie auch außerhalb der Kernfamilie mindestens eine sichere erwachsene Bindungsperson haben.
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Interessanterweise muss die Bindung zwischen Eltern und Kindern selbst in der Pubertät nicht vollkommen zerbrechen. Im Gegenteil kann eine sichere Bindung dazu führen, dass eigene Standpunkte auch ohne große Reibungen erarbeitet werden können. Zum Erwachsenwerden gehört es dann auch dazu, sich sein eigenes Bindungsnetz aufzubauen, um die Rolle des Kindes im alten Netz ablegen zu können. Selbst dann bleibt aber in vielen Fällen das alte sichere Bindungssystem ein Netz, in das man sich notfalls fallen lassen kann.
Keine Blaupausen
Obwohl es also durchaus verschiedene Phasen gibt, die Kinder durchlaufen, gibt es keine Blaupausen dafür, was genau ihnen in welchem Moment guttut. „Es gibt keine Idealgröße für ein soziales Umfeld“, (S. 76), schreibt Nora Imlau dazu. Und auch die Ausgestaltung des Umfeldes ist sehr unterschiedlich. Selbst zwei Erziehungsberechtigte können unterschiedliche Beziehungsnetze haben, die sich teilweise überlappen – teilweise aber eben auch nicht. Das ist auch ziemlich verständlich: Zu meinem Netz gehören selbstverständlich auch meine Freund*innen, bei denen ich zum Beispiel einfach mal einen Tee trinken kann. Freund*innen meines Mannes gehören dagegen zu seinem Netz, aber nicht zu meinem.
Genauso spannend finde ich folgenden Satz:
Selbst Kinder, die sich in ihrem Wesen und ihren Bedürfnissen sehr ähnlich sind, brauchen vielleicht völlig verschiedene Dinge – weil sie in unterschiedlichen Familien groß werden, die unterschiedliche Ressourcen haben.
Nora Imlau: In guten Händen, Seite 81
Das habe ich für mich umformuliert in: Ich kann von außen nicht wissen, was dieser Mensch gerade braucht. Ich muss nachfragen.
Wichtig fand ich außerdem, dass wir unser Netz nicht in bezahlt und unbezahlt, sondern in Vertraute und Fremde aufteilen sollten — daraus ergibt sich in meiner Interpretation ein System mit vier Feldern:
(Wie gesagt, die Matrix ist von mir, nicht aus dem Buch. Anmerkungen bitte nicht an Nora, sondern mich.)
Bezahlt | Unbezahlt | |
Fremd | in Ausnahmefällen je nach Situation als Betreuung nötig, in anderen Entlastungsgebieten durchaus normal, z.B. bei Essenslieferungen | kommt eigentlich nicht vor, außer jemand achtet auf dem Spielplatz mal kurz auf unser Kind, während wir uns zum anderen Kind umdrehen… |
Vertraut | regelmäßige Betreuung, aber auch andere Entlastung für die Eltern | Familie und Freund*innen (wobei ich eine Bezahlung für bestimmte Hilfe nicht kategorisch ausschließen will) |
Kapitel 3: Familie und Freundeskreis
(In diesem Blogpost rezensiere ich den ersten Teil des Kapitels, im nächsten Blogpost geht es dann weiter.)
In diesem Kapitel geht Nora Imlau darauf ein, wie Familie und Freundeskreise uns bei der Begleitung unserer Kinder helfen können.
Dabei ist es wichtig zu unterscheiden, dass Freundeskreise sich meist aufgrund bestimmter Interessensüberschneidungen bilden, während in Familien durchaus sehr unterschiedliche Charaktere zusammenkommen können.
Die Autorin geht darauf ein, dass für Menschen, anders als bei manchen Tierarten, der Bindungsaufbau ein Prozess ist, der über Jahre dauert. Nicht nur die Genetik oder die Hormone spielen dabei eine Rolle, sondern besonders die Erfahrungen, die wir mit diesen Personen in unserem Leben machen. Menschliche Bindungen sind also nicht statisch, sondern verändern sich im Laufe des Lebens. (Das ist wohl allen klar, die schon mal erlebt haben, wie aus einer Romanze ein Rosenkrieg wurde…)
Dieser Effekt erklärt zum Beispiel, warum adoptierte Kinder ihre Eltern genauso lieben können wie andere Kinder deren leibliche Eltern: es kommt eben nicht nur auf die Genetik an, sondern auch auf die jeweils gemachten Erfahrungen. Besonders spannend fand ich auch den Aspekt, dass sich nicht nur unsere Hormone auf unsere Bindung auswirken, sondern auch unsere Bindung auf unsere Hormone: Wer sich liebevoll kümmert, schüttet dabei Bindungshormone aus und wenn sich jemand liebevoll um ein Baby kümmert, schüttet das Baby dabei ebenso Bindungshormone aus.
Die Autorin macht an dieser Stelle auch deutlich:
Dass für viele Babys die Frau, die sie geboren hat, die wichtigste [Bindungsperson] von allen wird, [ist] weniger eine Frage der Biologie als vielmehr gesellschaftlicher Rollenbilder: Meist sind es die Mütter, die länger Elternzeit nehmen und sich mehr um das Baby kümmern.
Nora Imlau: In guten Händen, Seite 89
Es gibt aber auch Babys, die sich eine andere Person als primäre Bindungsperson aussuchen, und darauf haben wir als Erwachsene nur wenig Einfluss.
„Bindungsmuster lassen sich nicht erzwingen“ (Seite 90), sagt Nora Imlau, und macht deutlich, dass es ein Problem ist, wenn sich Erwachsene die jeweilige Bindung zum Baby vorwerfen – zum Beispiel, wenn es darum geht, dass Menschen, die nicht stillen, ja gar keine enge Bindung aufbauen könnten. Die Autorin macht hier deutlich, dass die Erwachsenen jeweils die Verantwortung dafür tragen, welche Bindung sie persönlich zu jedem Kind haben – unabhängig von den Bindungen zu anderen Erwachsenen. Außerdem ist es wichtig, zu akzeptieren, dass nicht jedes Kind zu jedem Elternteil eine ähnliche Bindung hat (und dass sich das im Laufe der Zeit auch ändern kann).
Spannend finde ich, dass die Anwesenheit einer sicheren Bindungsperson bei Babys dazu führt, dass sie auch leichter zu anderen Menschen eine sichere Bindung aufbauen können. Das bestätigt mir unsere persönliche Erfahrung, die wir mit unseren Babysitterinnen gemacht haben: Die kamen nicht nur, wenn mein Mann und ich beide Termine hatten (oder sogar ein Date!), sondern sie kamen jede Woche einen Nachmittag und waren einfach mit uns zu Hause. Für die Kinder wurden sie so zu Spielgefährtinnen statt zu Menschen, die immer nur kamen, wenn Mama und Papa weg wollten… (Mir ist durchaus bewusst, dass ich hier aus einer privilegierten Position spreche, denn wir hatten genug Geld und außerdem Menschen, die uns in dieser Hinsicht unterstützen wollten. Ich wurde allerdings auch von Menschen gefragt, warum das bei uns so gut funktionieren würde, die sehr gut betucht waren und für die die Geldfrage durchaus zu lösen gewesen wäre.)
Wichtig ist in diesem Zusammenhang: Auch wenn das Baby eine einzige primäre Bezugsperson hat, kann es weitere sekundäre Bezugspersonen haben. Und diese sind keine Fremden! Auch wenn das Baby die primäre Bezugsperson bevorzugt, ist es bei der sekundären Bezugsperson sicher und geborgen. Selbst wenn es zuerst mit Frust auf die Abwesenheit der ersten Bezugsperson reagiert.
Im nächsten Abschnitt dieses Kapitels geht dir Autorin darauf ein, welche Familienbilder wir haben und was uns davon überhaupt förderlich ist. Hierauf gehe ich im nächsten Teil der Rezension ein.
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Katharina Tolle
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