Leider habe ich es nicht zur Weltstillwoche geschafft — aber das Thema ist ja immer wichtig!
„Stillen ist das Beste für Ihr Kind“ – ich erinnere mich noch allzu gut an TV-Werbungen, bei denen passend zu diesem Slogan dann eine Mutter ihr Baby mit Flaschenmilch fütterte. Vielleicht war ich noch zu jung, um das Kalkül zu begreifen: Stillen im Ohr und Flasche auf dem Bildschirm – hängen bleibt die Kombination aus beidem mit der Bewertung „das Beste“.
Mir persönlich wurde von meiner weiblichen Verwandtschaft das Stillen nie offensiv abgesprochen. Sie machten aber auch deutlich, dass das für sie damals aus verschiedenen Gründen nicht oder nur kurz drin war.
Ich stillte meine drei Minis lang und gern (zumindest 98 Prozent der Zeit…).
Und dann, als das Thema bei uns schon ganz normal war und ich mich immer wunderte, wenn Frauen fragten, ob es okay sei, wenn sie bei einem Besuch auf unserer Terrasse stillten (Antwort: Das musst du dein Baby fragen, nicht mich), schickte mir Dr. Gerit Sonntag eines der von ihr auf deutsch verlegten Bücher: „Warum Stillen politisch ist*“.
Ich las. Und schluckte. Und mir wurde übel. Und ich wurde wütend. Dann fühlte ich mich machtlos. Ich rührte das Buch wochenlag nicht an, weil mir die Worte fehlten.
Nun starte ich einen zweiten Versuch, einzufangen, worum es im Buch geht. Ich verpacke es in interessante Fakten, damit du bis zu Ende liest. Denn seien wir ehrlich: Das Buch selbst ließ mich angesichts der Macht der Konzerne wütend, aber auch machtlos, zurück.
Bei den kommenden Zitaten gebe ich als Quelle nur die Seitenzahl des Buches an. Die vollständigen Angaben findest du am Ende des Beitrags.
Verhütung: Brust statt Stillen
„Stillen ist keine Verhütung“ — das haben wir alle schon mal gehört. Und dennoch wissen wir: Frauen, die Stillen, haben meist erst später wieder ihren Eisprung. Allerdings habe ich nicht gewusst: „Es ist nämlich nicht die Milchproduktion, die den Eisprung stoppt, sondern die häufige Stimulation der Brustwarze.“ (Seite 33).
Die freie Entscheidung für und gegen das Stillen war und ist ein Privileg
Von Königinnen und Herzoginnen
Schon bevor es überhaupt Babyersatzmilch gab, konnten nicht alle Frauen frei entscheiden, ob sie stillen wollten: Besonders beim hohen Adel gab es nämlich eine Abneigung gegen das Stillen:
Von den aristokratischen Familien wurden wiederum Ammen angestellt, da es der Lebenszweck einer Königin oder einer Herzogin war, so viele Erben wie möglich zu produzieren.
S. 37
Diese Ammen waren meist Frauen aus ärmeren Schichten. Übrigens habe ich dazu letztens ein spannendes Video geschickt bekommen, das ich gern verlinke. Darin geht es um die Charakterzüge, die eine Amme mitbringen sollte (Link führt zu Instagram). Fazit: Ammen waren (zumindest in der Tudorzeit) wohl recht gebildet. Aber halt kein Adel.
Lebensumstände erschweren Flaschennahrung
Heute steht die Frage nach möglichst viel Nachwuchs bei den meisten Familien in Europa nicht mehr im Mittelpunkt. Aber die Frage, ob eine Frau stillen will, ist nach wie vor Luxus.
Obwohl die großen Babyersatznahrungsfirmen auch in den ärmeren Ländern der Welt große Kampagnen für ihre Produkte gefahren haben, ist Nicht-Stillen ein Luxus, den sich viele Frauen nicht leisten können. Die Autorin verdeutlicht, dass
die Lebensumstände der Mehrheit der Menschen dazu führen, dass das Nicht-Stillen verheerende Konsequenzen hat.
S. 88
Gabrielle Palmer zählt verschiedene Aspekte auf, warum das Füttern mit Ersatzmilch für viele Menschen eigentlich gar nicht in Frage kommt:
- Die Hygiene bei der Zubereitung muss gewährleistet sein
- Man braucht sauberes Wasser
- Flaschennahrung ist eine finanzielle Belastung. Um sie zu ermöglichen, muss die Familie eventuell alle anderen Grundbedürfnisse einschränken
- Die Lagerung des Milchpulvers und der zubereiteten Milch kann nicht immer gewährleistet werden, wenn es keine Kühlung gibt.
Ausnutzen von ärmeren Frauen durch reichere Familien
Neben diesen Aspekten macht sie außerdem darauf aufmerksam, dass die Kraft und das Vertrauen der Frau in sich als Mutter sabotiert würden und finanzielle Abhängigkeiten entstünden, die für viele Familien zum Problem würden.
Spannend fand ich außerdem den Aspekt von Nannys heutzutage: Gerade für die Länder des Globalen Südens gilt nämlich:
Selbst in reichen Familien wird die Nahrung oft von Nannys zubereitet, die häufig Analphabetinnen sind.
S. 96
So können selbst die Kinder reicher Eltern unter falscher Zubereitung leiden — obwohl es finanziell für die Familie keine große Belastung ist, Ersatzmilch zu kaufen.
Ebenso wichtig fand ich einen anderen Aspekt:
Arme Frauen kümmern sich oft um die Kinder von reicheren Frauen, und zahlen dafür einen Preis: die Trennung von ihren eigenen Kindern.
S. 123
Und damit schließt sich auch der Kreis zwischen den Ammen für Adelige von früher und den Nannys von heute: Egal, ob sie die Babys reicher Menschen an die Brust legen oder mit der Flasche füttern: Häufig bedeutet das im Umkehrschluss die Trennung von eigenen Kindern.
Vulnerable Gruppen leiden am meisten
Vermutlich hast du dir das schon gedacht: Wer strukturell benachteiligt ist, leidet am meisten unter der Vormacht der Ersatzmilchkonzerne. Denn einerseits haben Gruppen wie Geflüchtete, Minderheiten und von Armut betroffene Menschen meist sowohl weniger Geld als auch weniger Informationsmöglichkeiten.
Dazu kommt aber auch, dass der Druck zur Anpassung bei ihnen besonders groß ist oder sie schlicht keine Alternativen sehen.
Auch Still-Informationen sind nach wie vor ein Privileg
Überraschung: Nicht nur die freie Entscheidung, sondern auch das Wissen über Stillen ist lange nicht normal!
Das gilt schon für die gesundheitlichen Aspekte, aber erst Recht für Informationen über die politischen und wirtschaftlichen Konsequenzen des Stillens.
S. 42
Das Problem ist aus Sicht der Autorin nicht, dass es prinzipiell unzureichende Informationen zum Stillen gäbe. Vielmehr kommen diese Infos kaum an gegen all die Werbemaßnahmen:
Die UN-Kinderrechtskonvention besagt, dass alle Teile der Gesellschaft das Recht auf Wissen über das Stillen haben. Wenn dieses Wissen in einem ständigen Strom kommerzieller Unwahrheiten, Schmeicheleien und Bestechung praktisch ertränkt wird, wird dieses Recht zerstört. Und das ist wirklich widerlich.
S. 137
Nicht jede Krankenschwester oder Hebamme ist Stillberaterin
Meine Hausgeburtshebamme hat mich wunderbar beim Stillen unterstützt. Das war aber auch wenig problematisch, weil meine drei Säuglinge diesem Begriff alle Ehre machten. Wenn die Brust nicht da war, saugten sie auch an Papas Oberarm… (Ja, ich habe Bilder von den entsprechenden „Knutschflecken“. Nein, ich rücke sie nicht raus…) Die Hilfe meiner Hebamme war also alles, was ich brauchte, um die Stillbeziehung zum Säugling schnell zu festigen.
Das läuft nicht immer so. Und nur, weil eine Frau im Kreißsaal oder auf der Wochenbettstation arbeitet, heißt das noch lange nicht, dass sie eine ausgebildete Stillberaterin wäre. Im Gegenteil: Gerade in ärmeren Ländern der Welt sind die Frauen das nicht.
Für eine überarbeitete und in Stillberatung nicht ausgebildete Krankenschwester, Ärztin oder Hebamme ist es wesentlich einfacher, einer weinenden Mutter eine Flasche in die Hand zu drücken, als die Ursache für das Problem zu ergründen.
S. 101
Was du erlebst, ist für dich normal
Das ist uns wohl allen irgendwie klar:
Wenn Sie mit dem Anblick von Babys aufwachsen, die sich an der Brust ihrer Mütter ernähren, nehmen Sie das nicht als problematisch wahr.
S. 45
Problematisch ist, dass es eben auch anders herum gilt: Wenn wir kaum mehr Frauen sehen, die ihre Neugeborenen (und erst recht größere Kleinkinder) stillen, dann ist es eben auch nicht normal. Gesellschaftlich wird es dann schnell zum Problem, weil Stillen — vor allem in der Öffentlichkeit — als komisch empfunden wird. Und das endet dann in Frauen, die angemotzt oder des Platzes verwiesen werden, weil sie ihr Baby stillen.
Wenn dein Baby zu klein ist, hau die Statistik in den Müll
Stillbabys haben andere Gewichtskurven als Flaschenbabys. Blöd ist, wenn die Flaschenbabykurven für alle Babys als Standard gesetzt werden. Dann gelten alle anderen Babys nämlich viel zu schnell als bedenklich klein und leicht:
Bis in das Jahr 2006 basierten die Wachstumskurven der WHO für Kinder auf den anhand von amerikanischen Babys erhobenen Daten. Diese wurden meist künstlich ernährt und wurden sehr schnell groß.
S. 56
Natürlich kann eine Statistik helfen, um auf Fehlentwicklungen aufmerksam zu werden. Allerdings ist es immer sinnvoll, dann von der Statistik weg auch den konkreten Einzelfall zu bewerten — gerade bei jungen Säuglingen.
Der Boykott gegen Nestlé
Bestimmst hast du schon vom Nestlé-Boykott gehört. Es gibt dazu sogar einen eigenen Wikipedia-Eintrag! Der Boykott kam aus dem USA, wo er in den 1970er Jahren begann. In den 80ern schwappte er auch nach Europa über.
Heute boykottieren viele Menschen Nestlé wegen der schlechten Arbeitsbedingungen in den Produktionsländern oder wegen des Abpumpens von Grundwasser. Damals jedoch begann der Boykott ausdrücklich, weil Nestlé aggressiv seine Milchersatzprodukte vermarktete — besonders in den Ländern des globalen Südens.
Ausschluss von Muttermilch aus dem Boykott
Die Menschen boykottierten also Nestlé-Produkte, um auf die verheerende Wirkung dieser Vermarkung hinzuweisen. Spannenderweise nahmen sie dabei die Milchersatzprodukte von diesem Boykott ausdrücklich aus: In manchen Regionen der Welt war die Säuglingsnahrung von Nestlé der einzige Muttermilchersatz. Die Aktivist*innen wollten aber um jeden Preis verhindern, dass Babys wegen des Boykotts sterben würden.
Kodex gegen unethische Werbung für Babyersatznahrung
1981 verabschiedete die Weltgesundheitsorganisation einen Kodex gegen unethische Werbung für Babyersatznahrung – gegen die Stimme der Vereinigten Staaten.
Nestlé und den mittlerweile anderen Produzenten von Babymilch sollte damit Einhalt geboten werden. Selbstverständlich gab es seitdem so manche Regierung, die unter Berufung auf den Kodex die Werbung für Babynahrung eindämmen wollte.
Gabrielle Palmer zählt in ihrem Buch einige Staaten auf, die schon kurz davor standen, entsprechende Gesetze zu verabschieden. Dann allerdings wurde entsprechend lobbyiert — Palmer spricht von Erpressung — und die Gesetze verstauben seitdem in der Schublade.
Ein Positivbeispiel: Brasilien
Es gibt allerdings auch Positivbeispiele. Eines davon ist Brasilien. Die brasilianische Regierung ging mit der Umsetzung des weltweiten Kodex gegen unethische Werbung für Babyersatznahrung sehr konsequent um:
Die Säuglingssterblichkeit sank innerhalb von 21 Jahren um 67 Prozent
S. 98
Zuerst mal: Yeah! Eine geringe Säuglingssterblichkeit is wunderbar!
Leider gibt Palmer keine Hinweise dazu, welche anderen Faktoren diese Entwicklung begünstigt haben könnten. Das könnten zum Beispiel der Zugang zu sauberem Wasser und ausreichend Ernährung sein, gestiegene Bildung oder auch bessere gesundheitliche Versorgung.
Um zu sehen, was genau diese Gesetzgebung zur sinkenden Kindersterblichkeit Säuglingssterblichkeit beigetragen hat, wäre zum Beispiel in Vergleich mit anderen Staaten mit ähnlichen Ausgangsbedingungen interessant, welche keine entsprechende Gesetzgebung einführten.
Stillen am Arbeitsplatz
Oh, das Thema hätte einen ganzen Blog für sich allein verdient. Ich fasse an dieser Stelle nur kurz zusammen, wie unterschiedlich das Stillen am Arbeitsplatz gesehen wurde und wird — hier und in anderen Teilen der Welt.
Dabei beziehe ich mich, falls nicht anders angeführt, auf Gabrielle Palmers Buch. Falls du zu einem der angesprochenen Fälle mehr Infos hast, lass es mich wissen!
Stillen am Arbeitsplatz in Vietnam
In Vietnam gibt es sechs Monate staatlich finanzierten Mutterschaftsurlaub. Für die Zeit danach wird das das Stillen am Arbeitsplatz aktiv unterstützt.
Stillen am Arbeitsplatz in Deutschland
In Deutschland sind Arbeitgeber*innen verpflichtet, Still- und Abpumppausen bis zum Ende des ersten Lebensjahres des Kindes zuzulassen.
Konkret heißt es im Mutterschutzgesetz dazu:
¹Der Arbeitgeber hat eine stillende Frau auf ihr Verlangen während der ersten zwölf Monate nach der Entbindung für die zum Stillen erforderliche Zeit freizustellen, mindestens aber zweimal täglich für eine halbe Stunde oder einmal täglich für eine Stunde.
²Bei einer zusammenhängenden Arbeitszeit von mehr als acht Stunden soll auf Verlangen der Frau zweimal eine Stillzeit von mindestens 45 Minuten oder, wenn in der Nähe der Arbeitsstätte keine Stillgelegenheit vorhanden ist, einmal eine Stillzeit von mindestens 90 Minuten gewährt werden.
³Die Arbeitszeit gilt als zusammenhängend, wenn sie nicht durch eine Ruhepause von mehr als zwei Stunden unterbrochen wird.
Mutterschutzgesetz, §7. Abgerufen auf dejure am 14.10.22
Übrigens wurde die Begrenzung auf die ersten zwölf Monate erst vor ein paar Jahren aufgenommen. Ich erinnere mich daran, weil mein Stillkind zu der Zeit schon über ein Jahr alt war.
Stillen am Arbeitsplatz: Das große Ganze
Gabrielle Palmer macht deutlich, dass das Stillen am Arbeitsplatz einige Probleme löst. (Ja, es bringt auch einige Probleme mit sich, aber dazu schreibe ich in einem anderen Artikel mal mehr, wenn mindestens fünf Personen unter diesem Artikel hier kommentieren, dass sie das wollen.)
Der Dreiklang aus Rechten der Mutter, Gesundheit des Babys und Ausbeutung von schlechter gestellten Frauen in der Gesellschaft tritt dabei klar hervor:
Ohne Unterstützung für Stillen am Arbeitsplatz führt eine frühe Rückkehr an den Arbeitsplatz zu schlechter ernährten Babys und Ausbeutung von schlecht bezahlten Kinderbetreuer:innen.
Doch wenn man lange genug Mutterschaftsurlaub hat, um Routine und Sicherheit beim Stillen aufzubauen, ist es nicht unbedingt notwendig, zuhause zu bleiben.
S. 125
Für Palmer ist es deshalb eine grundlegend feministische Frage, das Stillen am Arbeitsplatz zu normalisieren. Im Folgenden Zitat spricht sie von den Bedürfnissen der Mutter. Ich würde das ausweiten auf die Bedürfnisse der Familie.
Was fehlt, ist die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Priorisierung der Bedürfnisse des Kleinkindes, und gleichzeitig der Mutter (sic) als eigenständige Person. Dies erfordert Flexibilität, Vorstellungskraft und Innovation: Qualitäten, die Wirtschaftsgurus angeblich so lieben.
S. 125
Na, musstest du beim kleinen Seitenhieb auf manche Wirtschaftsgurus auch etwas grinsen? Ja, um Stillen am Arbeitsplatz zu ermöglichen, müssen wir Denkmuster aufbrechen. Aber ganz ehrlich: Das müssen wir doch so oder so, wenn wir auf einmal ein Kind zu versorgen haben.
Lieber Dialysegeräte oder Nieren?
Kommen wir zu einem recht provokanten Zitat:
Carolyn Campbell schrieb zu der Frage, ob Ersatzmilch an Muttermilch heranreiche: Sie sei ähnlich hirnrissig wie zu hinterfragen, ob wir wirklich lieber Nieren statt Dialysegeräte die Giftstoffreinigung unserer Körper übernehmen lassen sollten.
S. 110
Einerseits liebe ich dieses Zitat, denn es zeigt, wie krass wir etwas normalisiert haben, das doch menschheitsgeschichtlich eher eine neue Erfindung ist. Andererseits legt „hirnrissig“ leider nicht den Grundstein für eine sachliche Diskussion. Diese brauchen wir aber.
Muttermilch jenseits der kapitalistischen Marktstruktur
Hier ist ein wenig die Wirtschaftswissenschaftlerin mit mir durchgegangen. Immerhin hab ich mit den Zusammenhängen zwischen Feminismus und Wirtschaft ein paar Jahre meines Lebens verbracht… Ich bitte um Nachsicht.
Wenn die Wirtschaftsleistung eines Landes berechnet wird, wird alles berücksichtigt, das gegen Geld angeboten wird. Das kann die Leistung einer Hebamme sein, ein Babybettchen, der Bau einer Kinderklinik – oder die verkaufte Packung Säuglingsmilch. Die Muttermilch dagegen bleibt bei dieser traditionellen Art der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung außen vor. Sprich: Sie bringt keinen Gewinn ein. Eine Familie, die künstliche Säuglingsnahrung kauft und damit deren Absatz steigert, trägt zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei. Eine Familie, in der das Baby gestillt wird, gibt für die Babynahrung kein Geld aus.
Das Bruttoinlandsprodukt steigert diese Familie vielleicht eher durch den Kauf von anderen Dingen, weil das Geld nicht für Säuglingsnahrung ausgegeben wurde. Am besten ist aber für das BIP natürlich, wenn für alles Geld ausgegeben wird. Dann ist es volkswirtschaftlich messbar.
Spannend ist hier für mich vor allem ein Aspekt:
Wieder ist es die Leistung der Frauen, die wirtschaftlich nicht berücksichtigt wird. Denn nur, was verkauft wird, wird gerechnet. Alles, was direkt in der Familie geleistet wird, bleibt in diesem Modell unberücksichtigt. Zum Glück gibt es Ansätze, auch diese Leistung – ob Stillen oder Care-Arbeit – volkswirtschaftlich zu berücksichtigen.
S. 123
Diese Ansätze sind übrigens gar nicht so neu: Schon in den 1970er Jahren machte Norwegen den Vorschlag, menschliche Muttermilch in die Statistik der weltweiten Nahrungsmittelproduktion aufzunehmen. Die Welternährungskonferenz lehnte den Vorschlag ab (Seite 123).
Leider wurden sie nicht nur in den 1970er Jahren abgelehnt. Auch heute schließen die meisten wirtschaftlichen Statistiken Muttermilch aus. Dabei ist eines ganz wichtig:
Während einige es als anstößig empfinden mögen, die Muttermilch mit einem Preisschild zu versehen, suggeriert das Fehlen eines Preisschildes, dass diese keinen Wert hat.
Zitiert nach Julie Smith und Lindy Ingham, S. 114.
Stillen bekommt, genauso wie Care-Arbeit, erst dann ein Preisschild, wenn sie von anderen erledigt wird. Nicht immer ist diese geleistete Mehrarbeit die Arbeit von Frauen. Nicht immer. Aber immer noch sehr viel mehr als von Männern.
Mit dem fehlenden Preisschild geht deshalb nach wie vor eine soziale Komponente einher:
Gebären und Stillen sind Tätigkeiten, denen nur ein niedriger sozialer Status zugestanden wird.
S. 123
Wie klingt das dagegen:
Bereits als Nahrungsmittel sind 21,3 Millionen Liter Muttermilch ca. 1,83 Milliarden Euro wert.
Einundzwanzig Millionen Liter Muttermilch und mehr, Artikel auf https://www.nationalestillfoerderung.de/themen/50-21-mio-l-mumi.html, abgerufen am 14.10.22
1,83 Milliarden Euro. Allein in Deutschland. Jedes Jahr. Klingt das immer noch nach wertlos? Ich bin gespannt, wann die VWL-Institute verstehen, dass menschliche Säuglingsmilch einen Wert hat — und dass es die Staatskasse auf Dauer weniger kosten wird, das Stillen zu fördern und zu subventionieren.
Klar, Subventionen kosten Geld. Aber das stört ja beim Milchpulver auch niemanden:
Milchpulver wird subventioniert
Die riesigen Gewinne der Kunstmilchkonzerne beruhen zum Großteil auf der Unterstützung durch die Steuerzahler:innen.
S. 47
Und das liegt an einer doppelten Subventionierung: Erst subventionieren wir die Milchproduktion, dann die Erschaffung von Ersatzmilch daraus.
Säuglingsmilch und der ökologische Fußabdruck
Wo wir schon dabei sind, menschliche Milchproduktion „wirtschaftsfähig“ zu machen: Auch in Bezug auf Emissionen können wir selbstverständlich Stillen mit künstlicher Babynahrung vergleichen.
Im Durchschnitt werden für jedes produzierte Kilo[gramm] Milchpulver vier Kilo[gramm] Treibhausgase emittiert.
S. 133
Ein Baby wird die Welt nicht retten. Und ein Baby wird auch die Welt nicht in den Untergang stürzen. Dazu tragen wir alle bei.
Wenn wir Babys in die Welt setzen, vergrößert sich unser ökologischer Fußabdruck.
Doch wir können sehr bewusst versuchen, diesen Fußabdruck verhältnismäßig gering zu halten. Hausgeburten sind ökologisch gesehen erstmal weniger Aufwand als eine Krankenhausgeburt. Wir können mit Stoffwindeln wickeln. Und wir können es vermeiden, künstliche Babynahrung zu kaufen.
Und egal, für was wir uns entscheiden: Niemand ist perfekt. Wenn wir alle das beisteuern, was für uns möglich ist, ist schon viel geschafft.
Ein Grund, nicht zu stillen
Wie könnte ich diese Rezension abschließen ohne den Satz, den auch unsere Kinderärztin, unsere Hebamme und viele Stillberaterinnen immer wieder wiederholen:
Der einzige Grund, warum eine Frau nicht stillen sollte, ist, dass sie es nicht will.
Sheila Kitzinger*, S. 117
*Sheila Kitzinger
Sheila Kitzinger war britische Sozialanthropologin. Obwohl sie selbst keine Hebamme war, bildete sie Hebammen aus und widmete sich zeitlebens den Themen Schwangerschaft, Geburt — aber auch Sex und Feminismus. Ihre Bücher findest du unter anderem auf Amazon*.
Das sehe ich auch so.
In einer idealen Welt sind die Rahmenbedingungen fürs Stillen so gut, dass jede Frau alle Hilfe und Unterstützung bekommt, die sie möchte. Wenn wir Stillen wieder als Normalzustand sehen, ist die Zahl der Frauen, die sich sehr bewusst gegen das Stillen entscheiden, recht klein.
Und diese Frauen sollten wir dann nicht ausgrenzen, niedermachen oder mit mommy-shaming strafen. Wir sollten ihre Entscheidung annehmen, als das, was sie ist: Ihre eigene Entscheidung.
Fazit: Warum Stillen politisch ist
Leute, ich habe schon einfachere Bücher gelesen. Es gibt Bücher, die machen beim Lesen einfach gute Laune. Oder zumindest lassen sie dich in dem Gefühl zurück, dass du etwas tun kannst. Dieses hier ließ mich wütend, traurig und erschöpft zurück.
Ich fühlte mich, wie manchmal nach den Nachrichten: So vieles ist schlecht auf der Welt. Wie sollen wir da jetzt weitermachen?
Doch es hilft nichts, einfach nichts zu tun. Schritt für Schritt nähern wir uns unserem Ziel. Egal, dass es Mini-Schritte sind. Klären wir auf, dass Stillen politisch ist (und immer war). Und entscheiden wir immer wieder neu, wie wir unsere Macht, stillen zu können, nutzen.
Bibliographische Angaben
Titel: Warum Stillen politisch ist
Autorin: Gabrielle Palmer
Originaltitel: Why the politics of breastfeeding matter, 2016
Deutsche Übersetzung: Ingeborg Hagedorn
Lektorat: Anna Petri-Satter
Titelbild: Gudrun Marth
Umfang: 162 Seiten
Einband: Broschur
Format: 17 x 11 cm
Gewicht: 140g
Lesealter: ab ca. 15 Jahren
deutsche Erstveröffentlichung: 2022, Magas-Verlag
ISBN: 978-3-949537-00-4
Leseprobe: Kostenlos unter Magas-Verlag
Ich habe es vor kurzem erst in einer Stillberatung erlebt: Selbst in Deutschland macht die Hautfarbe der Frau einen großen Unterschied ob diese Frau Unterstützung beim Stillen erhält. Und zwar im Krankenhaus vom Fachpersonal.
Dunkelhäutige und generell ausländische Frauen bekommen deutlich weniger Unterstützung von Fachpersonal, sowohl wenn es um die Geburt geht, als als beim Stillen.
Ein guter und interessanter Artikel, der eine neue Sichtweise eröffnet. Ich stille gerade unsere Zwillinge (voll) und habe neben der Arbeitsersparnis, keine Fläschchen spülen zu müssen, auch den finanzielle Aspekt im Kopf gehabt, wobei das schönste einfach das Geschenk dieser engen Bindung ist. Viele schauten und schauen mich ungläubig an, dass ich Zwillinge Stille und auch mit 5 Monaten immer noch keinen Brei füttere. Die Natur ist einzigartig und gibt den Kinder alles was sie brauchen. Ein echtes Geschenk. Wenn nun noch der ökologische Fußabdruck einbezogen wird, ist man doppelt dankbar für dieses Geschenk und hofft, dass irgendwann ein Umdenken stattfindet und jede Frau die bestmögliche Unterstützung zum Stillen erhält.
Vielen Dank für diesen Artikel.