Studie: Wie entscheiden geburtshilfliche Fachpersonen? – Studiendesign zeigt Probleme in der Geburtshilfe

Die Hochschule für Gesundheit in Bochum führt noch bis zum 21. Februar eine Umfrage unter geburtshilflichen Fachpersonen durch. Die Wissenschaftler*innen wollen „untersuchen, welche Entscheidungen klinisch tätige geburtshilfliche Fachpersonen, also Hebammen, Entbindungspfleger, Gynäkologinnen und Gynäkologen, in bestimmten Situationen treffen und wie solche Situationen eingeschätzt werden“ (Zitat aus der Einleitung zur Online-Umfrage).

Im folgenden werde ich zuerst kurz berichten, was in der Umfrage abgefragt wird und wer teilnehmen kann. Danach werde ich meine persönliche Einschätzung zum Studiendesign geben und auf verschiedene Details aufmerksam machen, die mir aufgefallen sind.

Studie: Wie entscheiden geburtshilfliche Fachpersonen?

An wen richtet sich die Studie?

Die Studie richtet sich an Menschen, die mindestens zwei Jahre lang in der Geburtshilfe im Krankenhaus gearbeitet haben — entweder als Hebamme, Entbindungspfleger oder Ärzt*in. Es geht dabei um die tatsächlich im Kreißsaal tätigen Arbeitsjahre. So sollen zum Beispiel die Jahre, in der außerklinisch gearbeitet wurde oder in denen wegen Elternzeit nicht gearbeitet wurde, abgezogen werden. Ob in dieser Zeit in Voll- oder Teilzeit gearbeitet wurde, wird zwar abgefragt, ist aber kein Ausschluskriterium.

(Ich konnte die Studie nur anschauen, weil ich falsche Daten angegeben habe, die ich aber natürlich nicht abgeschickt habe, um die Studie nicht zu verfälschen…)

Worum geht es in der Studie?

In einem kurzen Einleitungsteil werden unter anderem Daten zum Alter, zur Berufserfahrung und zur Art der Geburtsstation abgefragt. (interessanterweise wird auch nach einem hebammengeleiteten Kreißsaal gefragt. Dabei gibt es in Deutschland davon recht wenige, wie auf dieser Karte des Hebammenverbandes nachgesehen werden kann…)

Danach werden drei einzelne Fallbeispiele vorgelegt. Jeweils kurz wird beschrieben, was über die Gebärende im Kreißsaal bekannt ist: Schwangerschaftswoche, Schwangerschaftsverlauf, vorherige Schwangerschaften, geschätzte Größe des Babys, Daten des gerade beendeten CTG, Dauer der Wehen, Zustand der Fruchtblase, Muttermundweitung, wie sich die Frau fühlt.

Daran anschließend soll die befragte Person eine Einschätzung zur Situation geben:

  • Wie gefährlich ist die Situation gerade? (Wie hoch ist das „Risiko“? Allerdings wird „Risiko“ nicht näher definiert.)
  • Und welche Art von Reaktion wird die befragte Person vornehmen? Hier kann gewählt werden zwischen verschiedenen Schmerzmitteln, Beratungen mit anderen Personen, wehenfördernden Mitteln, wehenhemmenden Mitteln oder Kaiserschnitt. Für jede einzelne Reaktion kann angegeben werden, wie wahrscheinlich sie in dieser Situation umgesetzt würde.

Daran anschließend folgt ein Fall, in dem fünf Gebärende auf vier Fachpersonen kommen (zwei Hebammen, ein*e Oberärzt*in und ein*e Fachärzt*in). Die Frage ist nun, für welche der Gebärenden das größte Risiko vorliegt.

Nach diesen Fallbeispielen wird noch nach ein paar Persönlichkeitsmerkmalen gefragt: Wie zurückhaltend, bequem, entspannt, künstlerisch interessiert, gesellig, gründlich, nervös und fantasievoll ist die Person? Vertraut sie auf das Gute im Menschen? Kritisert sie schnell?

Am Ende gibt es noch ein offenes Feld für andere Bemerkungen. Gehört sich halt so in einem guten Studiendesign.

Wie lang dauert die Beantwortung der Studie?

Natürlich hängt es davon ab, ob du die Hinweise zum Datenschutz wirklich liest 😉

Die eigentliche Beantwortung der Fragen dauert zwischen 10 und 15 Minuten. Die Entscheidungen sollen aus dem Bauch heraus getroffen werden. Es ist also nicht sinnvoll, erst noch im Fachbuch nachzuschlagen, welche Vorgehensweise dort beschrieben wird.

Meine Bemerkungen zur Studie

Persönlichkeit & Berufswahl

Aus dem konkreten Aufbau der Studie lässt sich erkennen, dass explizit Unterschiede zwischen der Herangehensweise von Ärzt*innen und Hebammen / Entbindungspflegern herausgearbeitet werden sollen. Die Abfrage der Persönlichkeitsmerkmale ist spannend. Sollte sich daraus ergeben, dass die Ausprägung der Persönlichkeitsmerkmale über beide Berufsgruppen statistisch nicht siginifikant ist (es also keine Merkmale gibt, die bei der einen Gruppe deutlich anders ausgeprägt sind, als bei der anderen), kann man davon ausgehen, dass Unterschiede in der Entscheidungsfindung und Risikobewertung vor allem auf die Art der Ausbildung zurückzuführen sind.

Konkret heißt das: Wenn Ärzt*innen und Hebammen sich gleich häufig als „zurückhaltend“ angeben, aber dennoch unterschiedlich häufig bestimmte Maßnahmen treffen, könnte dies mit der Berufswahl zu tun haben.

Unterscheidet sich dagegen bereits die Ausprägung eines Persönlichkeitsmerkmals in einer Berufsgruppe deutlich von der anderen Gruppe, stehen wir vor einem Henne-Ei-Problem: Bedingen unterschiedliche Persönlichkeiten die Berufswahl, oder fördert die Berufswahl die Ausprägung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale?

Darüber hinaus wird übrigens auch gefragt, ob die Person in einer leitenden Funktion tätig war oder ist — auch hier ist allerdings die Frage von Ursache und Wirkung offen: Werden Personen mit bestimmten Entscheidungsmustern eher in leitende Funktionen berufen, oder verhalten sie sich aufgrund ihrer leitenden Funktion anders?

In diesem Punkt bin ich gespannt auf die Auswertung der Studie.

Geschlecht

Spannenderweise wird in der Studie zwar nach Alter, aber nicht nach Geschlecht differenziert. Ob es sich also um Hebammen oder Entbindungspfleger handelt, wird nicht deutlich. Gleiches gilt für Ärzt*innen. Das ist einerseits recht ungewöhnlich — fast immer wird in Studien nach dem Geschlecht gefragt — in diesem Fall vermutlich aber beabsichtigt. Aufgrund der ausgesprochen geringen Anzahl männlicher Entbindungspfleger in Deutschland wäre eine Anonymität der Aussagen nicht zu gewährleisten. Außerdem ist eine statistische Verallgemeinerung bei einer solch kleinen Datengrundlage ebenfalls nicht möglich.

Typisches Bild der Arbeit von Personal im Kreißsaal

Ganz unabhängig vom eigentlichen Forschungsziel hat das Studiendesign für mich eines der Kernprobleme der Geburtshilfe in Deutschland gezeigt. Egal ob Hebamme, Entbindungspfleger oder Ärzt*in: Alle müssen sich sehr schnell ein Bild von einer Person machen, die sie im Normalfall vorher nicht kennen. Sie sind deshalb auf die Werte der technischen Gerätschaften angewiesen. CTG, vaginale Untersuchung, ein kurzer Blick auf die Anamnese und mögliche Vorerkrankungen — das war’s erst mal. Dann kommt natürlich die Frage an die Gebärende, wie es ihr ginge. Wie aber schätzt das medizinische Personal die Antwort ein? Bedeutet „gut“ tatsächlich „gut?“ oder ist „gut“ eigentlich nicht so toll, weil sie Frau sonst eher Begriffe wie „fantastisch“ nutzt? Wie gut ist das Team zwischen Gebärender und Geburtsbegleitung eingespielt? Kann sich die Gebärende auf die Geburt einlassen, oder ist sie in Gedanken noch beim älteren Geschwisterkind, das gerade in aller Eile zu den Großeltern gefahren wurde?

All diese Fragen kann eine Person, die zum ersten Mal Kontakt zur Gebärenden hat, kaum beantworten — und erst Recht nicht, wenn gleichzeitig noch andere Frauen zu betreuen sind.

Insofern hat mich die Studie darin bestärkt, dass eine 1:1-Betreuung unter der Geburt zwar wünschenswert, aber nur ein Schritt zu einer umfänglichen Betreuung vor, während und nach der Geburt sein kann.

Abwechselnde Vorsorgeuntersuchungen bei Hebamme und Gyn

Laut auflachen musste ich, als es im Fallbeispiel hieß, „regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen im Wechsel mit einer Hebamme und einer niedergelassenen Gynäkologin zeigten keine Auffälligkeiten.“ Denn leider gibt es ja immer wieder Ärzt*innen, die Schwangeren erzählen, dass das nicht geht, weil sie dann die Vorsorge nicht abrechnen könnten. Insofern hoffe ich, dass sehr viele niedergelassene Gynäkolog*innen die Studie lesen und davon überzeugt werden, diese abwechselnden Vorsorgeuntersuchungen nicht länger abzulehnen. Und ich hoffe, dass auch die Krankenversicherungsgesellschaften das endlich ohne zu murren akzeptieren.

Wie kannst du an der Studie teilnehmen?

Wenn du die Voraussetzungen erfüllst (also in der klinischen Geburtshilfe aktiv bist oder warst), kannst du den Fragebogen online noch bis zum 21. Februar 2021 ausfüllen. Hier geht es zum Fragebogen.

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