Traumasensible Geburtsvorbereitung wird uns in diesem Jahr noch häufiger beschäftigen. Denn nicht jede Geburtsvorbereitung ist für alle Schwangeren sinnvoll. Manchmal braucht es einfach ein bisschen mehr. Im heutigen Interview spreche ich mit der Ärztin Marie Bailer darüber, wie sie dazu kam, traumasensible Geburtsvorbereitung anzubieten und was genau sie da so macht.
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Um denjenigen gerecht zu werden, die sich mit den Worten „Frau“ oder „Mutter“ nicht identifizieren können, obwohl in ihrer Geburtsurkunde „weiblich“ steht, habe ich mich dazu entschlossen, in meinen eigenen Beiträgen „Mutter“ und „Frau“ jeweils mit dem Inklusionssternchen zu versehen. Ihr werdet also Frau* oder Mutter* lesen (falls der Text von mir kommt und nicht von anderen Menschen). Geschlechtergerechte und inklusive Sprache ist mir ein Herzensthema, allerdings ist (meine persönliche und die gesellschaftliche) Entwicklung dazu noch lange nicht abgeschlossen. Mal sehen, wie ich es in Zukunft angehe. Mehr zum Thema liest du unter anderem hier: Sollte ein Geburtsblog geschlechtsneutral sein, Gebären wie eine Feministin und Sex, Gender, Geburten und die deutsche Sprache.
Liebe Marie, bitte stell dich doch kurz vor!
Sehr gerne. Mein Name ist Marie, ich bin 41 Jahre alt, Allgemeinärztin und Psychotherapeutin und Mutter eines kleinen Kindes.
Ich begleite Frauen auf ihrem Weg hin zu mehr Liebe in ihrem Leben: Liebe zu sich selbst, ihrem Körper, ihrer Sexualität, ihrem Herzen, zu Gott oder dem Universum- wie auch immer man das nennen will. Mehr Liebe im Innen führt ja dann auch zu mehr Liebe im Außen. Ein traumasensibler Ansatz ist mir dabei ganz besonders wichtig.
Das ist ja doch eher ein ungewöhnlicher Ansatz für eine Allgemeinmedizinerin, oder? Wie kam es zu deiner Ausrichtung?
Ich mag Medizin. Ich finde es immer spannend, zu verstehen, wie unser Körper funktioniert. Seine ganze Perfektion bringt mich zum Staunen. Aber nach dem Studium ist mir bei der Arbeit zunehmend aufgefallen, dass ganz vielen Menschen gar nicht wirklich geholfen wird: Weil die wirkliche Ursache nicht angeschaut wird, weil es nur um Leitlinien geht und nicht um das, was ein Mensch individuell braucht, weil das medizinische System überfordert ist und dadurch oft lieblos, weil nur der Körper betrachtet wird. Dass Körper und Psyche zusammengehören, ist bis heute noch nicht bei allen Ärzten angekommen. Und dass es auch noch eine spirituelle Dimension gibt, darüber darf man fast nicht laut sprechen. Und das ist ein Verlust. Für alle Seiten.
Ich mag gerne sinnhafte Dinge tun, die zu mehr Freiheit führen. Und das ist für mich persönlich nur mit einem wirklich ganzheitlichen, allumfassenden Blickwinkel möglich.
Wie kann ich mir deine traumasensible Arbeit vorstellen?
Ich kenne Trauma ganz persönlich und nicht nur fachlich – in – und auswendig, sozusagen.
Daher habe ich ein gelebtes Verständnis dafür, dass manche Themen schwer sind und komplexe Auswirkungen haben. Und das fließt in meine Arbeit ein.
Mit meinen Angeboten möchte ich einen sicheren Raum für Frauen schaffen, die mutig sein wollen, sich ihren Ängsten zu stellen und ihre Verletzungen zu heilen.
Ich habe selbst sehr viel ausprobiert auf meinem Weg. Und so einen sicheren Ort, an dem ich mit allen meinen Ängsten da sein kann UND zugleich neue Wege gehen kann, den habe ich oft vermisst.
Erzähl uns doch gerne, welche Begleitungen du rund um Schwangerschaft und Geburt anbietest!
Ich biete 1:1 Sitzungen vor, während oder nach der Schwangerschaft an. Immer dann, wenn ein erhöhter Bedarf besteht ein Thema näher zu beleuchten. Wenn dafür vielleicht nicht genug Raum oder Verständnis innerhalb der regulären Geburtsvorbereitung ist. Wenn die Frau sich einfach eine intensivere Begleitung wünscht.
Der Bedarf kann ja je nach Vorgeschichte sehr unterschiedlich sein. Besonders wenn es schon sexuelle Grenzverletzungen wie Missbrauch oder eine schwere Geburt zuvor gegeben hat.
Diese Angebote finden vor allem online statt.
Auch in diesem Jahr gibt es einen Geburtsgeschichten-Adventskalender und ein paar Adventsverlosungen. Sei dabei!
Inwieweit sind aus deiner Sicht sexuelle Grenzverletzungen relevant für die Geburtserfahrung einer Person?
Sexuelle Grenzverletzungen sind eine Erfahrung von Ohnmacht und Ausgeliefert sein. Und oft auch von Schmerzen.
Sie sind ein Angriff auf das Vertrauen. Das Vertrauen in andere Menschen, in den eigenen Körper, dass das Leben gut ist, dass man sicher ist.
Für eine Frau, die schon sexuelle Grenzüberschreitungen erlebt hat, kann Geburt daher voller Trigger sein:
Schmerzen und Untersuchungen an dem Ort, der verletzt worden ist, ein fremdes, als unsicher erlebtes Umfeld, das Gefühl der Abhängigkeit vom Wohlwollen der Geburtshelfer und so weiter.
Geburt als sehr intimer, verletzlicher Moment birgt dann die Gefahr zu dissoziieren oder (re)-traumatisiert zu werden.
Aber Geburt bietet auch eine große Chance, Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit zu erleben, eine tiefe Nähe und Verbindung zum eigenen Körper, einen Moment ungeahnter Kraft und verkörperter Stärke. Einen Moment des sich Fallenlassens und Vertrauens.
Und das wünsche ich mir für alle Gebärenden.
Leider muss man ja sagen, dass unser medizinisches System auch für Frauen, die nicht vorbelastet sind, verstörend sein kann.
Gewalt in der Geburtshilfe wird oft normalisiert und bagatellisiert. Viel zu viele Frauen gehen aus Geburt traumatisiert heraus.
Zum Glück gibt es natürlich auch ganz viele wunderbare Erfahrungen.
Aber für meinen Geschmack darf sich unsere Geburtskultur deutlich ändern. Geburt gilt es nicht kontrollieren zu wollen sondern respektvoll und liebevoll ganz individuell zu begleiten. Mit so wenig Einmischung von außen wie nur möglich.
Das ist die perfekte Steilvorlage für meine Abschlussfrage!
Was sollte sich aus deiner Sicht in der deutschen Geburtskultur ändern?
Für meinen Geschmack braucht es wieder mehr Demut. Ein etwas altmodisches aber sehr passendes Wort hier wie ich finde. Die moderne Medizin glaubt, Geburt kontrollieren zu dürfen – ja gar zu müssen!
Was für eine verrückte Idee. Und was für eine Überheblichkeit. Diese Haltung legitimiert Übergriffigkeiten und Gewalt, ebenso wie einheitliche Prozesse für alle.
Dabei ist Geburt total individuell. Und von Natur aus darauf ausgelegt, zu funktionieren.
Ich bin dankbar für die Möglichkeiten der modernen Medizin und definitiv für Eingriffe zum Schutz von Mutter und Kind, wenn diese wirklich notwendig sind. Doch wie viele „rettende“ Eingriffe wären gar nicht erst nötig geworden, hätte man sich vorher nicht eingemischt und den natürlichen Verlauf gestört? Wären da mehr Geduld und Vertrauen gewesen. Und Respekt.
Und das finde ich höchst bedenklich.
Wir dürfen uns wieder daran erinnern, dass Frau alles in sich trägt, was es für Geburt braucht.
Ich wünsche mir daher eine Geburtskultur, in der Respekt vor der Gebärenden die Normalität ist. Respekt vor ihrer intuitiven Weisheit.
Eine Kultur auch voller Respekt für den Körper, die Perfektion des Ablaufs, die Orchestrierung der Hormone!
Eine Kultur, die die Wichtigkeit einer positiven Geburtserfahrung für Mutter und Kind erkennt. Auch für uns als Gesellschaft.
Für die Mutter, die ihre eigene Stärke, die Kraft und Weisheit ihres Körpers erleben darf, ihre Angebundenheit zu ALLEM, was ist. Und für das Kind, welches beim Übergang in diese Welt seine ersten prägenden Erfahrungen macht: dass Leben sicher ist, dass es willkommen ist, in seinem eigenen Rhythmus und Tempo, dass es geliebt ist und genau richtig so wie es ist.
Wenn man all das erkennt, dann kann man Geburt eigentlich nur noch ganz ruhig und leise voller Staunen beobachten. Sich so gut es geht im Hintergrund halten und möglichst wenig einmischen. Ob zu Hause oder im Krankenhaus, wo und wie auch immer Geburt stattfinden mag. Dieser heilige Moment.
Danke dir, liebe Marie!
Dr. med. Marie Bailer
Marie Bailer ist Medizinerin und unterstützt mit ganzheitlichem Coaching und Online-Kursen Frauen auf ihrem Heilungsweg nach sexueller Grenzverletzung.
Sie widmet sich den Themen Selbstliebe, Frausein, Sexualität, Schwangerschaft und Geburt.
Besonders liegt ihr die traumasensible Geburtsvorbereitung am Herzen.
Wöchtenliche Updates zu neuen Beiträgen
Katharina Tolle
Wie schön, dass du hier bist! Ich bin Katharina und betreibe seit Januar 2018 diesen Blog zu den Themen Geburtskultur, selbstbestimmte Geburten, Geburtsvorbereitung und Feminismus.
Meine Leidenschaft ist das Aufschreiben von Geburtsgeschichten, denn ich bin davon überzeugt, dass jede Geschichte wertvoll ist. Ich helfe Familien dabei, ihre Geschichten zu verewigen.
Außerdem setze ich mich für eine selbstbestimmte und frauen*-zentrierte Geburtskultur ein. Wenn du Kontakt zu mir aufnehmen möchtest, schreib mir gern!