Geflüchtete im Gästezimmer [Mamawelt]

„Wenn heute Abend oder Nacht auf einmal Alarmsirenen heulen, ist das bloß die örtliche freiwillige Feuerwehr. Die funktioniert hier noch immer über eine öffentliche Sirene. Und wenn schwere Fahrzeuge mit erhöhter Geschwindigkeit auf der Dorfstraße entlangrasen, sind das die Trecker. Die landwirtschaftlichen Betriebe hier arbeiten gern auch mal nachts.“

Anderen Gästen hätten wir das so gar nicht erzählt. Bei unseren jetzigen Gästen jedoch war es uns wichtig. Denn sie kommen aus der Ukraine. Sirenen bedeuten dort gerade nicht unbedingt die ausrückende Feuerwehr, sondern Luftalarm. Und die schweren Fahrzeuge auf den Straßen sind nicht unbedingt Traktoren, sondern Panzer.

In diesem Beitrag berichte ich von unseren Erfahrungen mit der Aufnahme von Menschen, die aus der Ukraine vor dem Krieg geflohen sind. Ich nenne keine Namen, um die Menschen nicht zur Schau zu stellen oder sie in irgendeiner Weise zu gefährden.

Die Welt spielt verrückt. Bisher habe ich den Krieg in der Ukraine hier im Blog weitestgehend ignoriert. Nun ist das vorbei.

Seit ein paar Tagen lebt bei uns zu Hause ein Pärchen, das aus Kiew geflohen ist. Die beiden sind ein paar Jahre jünger als wir und kamen mit einem großen und einem kleinen Koffer an. Alles andere ließen sie in Kiew zurück.

In diesem Beitrag will ich auf einige Fragen antworten, die mir seitdem gestellt wurden. Natürlich kann ich nur für uns sprechen und will nicht verallgemeinern. Dennoch kann dieser Beitrag vielleicht auch dazu beitragen, besser mit der jetzigen Situation klarzukommen.

Wer hat die Entscheidung gefällt, geflüchtete Menschen aus der Ukraine aufzunehmen?

Zunächst haben mein Mann und ich darüber gesprochen. Wir wollten helfen. Wir hatten aber auch große Bedenken, gerade in Bezug auf Sprache und eine eventuelle Traumatisierung.

Als Freunde von uns eine Familie aufnahmen, wurde der abstrakte Wunsch bei uns konkreter. Wir fassten Mut. Als die nächste Familie ebenfalls im Freundeskreis Unterschlupf fand, war klar: Wir werden auch jemanden aufnehmen.

An diesem Punkt haben wir mit den Kindern darüber gesprochen. Sie haben verstanden, dass die Menschen in der Ukraine Angst um ihr Leben haben und deshalb dort geflohen sind.

Unsere Dreijährige war dann ganz pragmatisch: „Und hier haben sie kein Bett, also bekommen sie unseres. Wir brauchen das ja gerade nicht. Oma und Opa sind ja nicht zu Besuch.“ Recht hat sie, die kleine Dame.

Die beiden Jungs waren ebenfalls einverstanden. Sie sind bisher noch recht zurückhaltend. Ich vermute, die Sprachbarriere ist für sie größer. Mal schauen, ob sich das mit Fußballspielen oder so aufweichen lässt 😉

Wie kam der Kontakt mit den Menschen zustande?

Wir haben uns auf Unterkunft-Ukraine angemeldet. Die dort gemeldeten Plätze werden an die entsprechenden Landkreise weitergeleitet, so dass dann Plätze vor Ort vergeben werden können.

Letztendlich ging es dann aber sogar ohne diese Webseite: Freunde haben einen Teil der Familie aufgenommen. Der Kontakt kam in diesem Fall über berufliche Verbindungen zustande. Und wir haben dann kurzerhand den zweiten Teil der Familie aufgenommen.

So haben die Menschen sich gegenseitig — und das ist auch schon viel wert!

Wie verständigt ihr euch mit den Geflüchteten aus der Ukraine?

Die beiden sprechen englisch. Das ist für uns super, denn wir sprechen weder russisch noch ukrainisch. In der Tat haben wir uns schon gefragt, ob wir auch so gut klarkämen, wenn es keine gemeinsame Sprache gäbe.

Aber selbst dann gäbe es vermutlich Mittel und Wege.

Und es gab bereits Situationen, in denen unsere Dreijährige mit unserem Gast ein Puzzle löste: Die Tochter auf deutsch; die Ukrainerin auf ukrainisch. „Dino“ und „Grrr-woooah!“ funktioniert interkulturell blendend.

Mittlerweile haben wir außerdem überall im Haus kleine Klebebandstreifen, auf denen die entsprechenden Begriffe auf deutsch, englisch und ukrainisch stehen. So lernen wir alle noch etwas.

Wie lange sollen sie denn nun bei euch wohnen? Was, wenn der Krieg noch Jahre dauert?

Ich wage nicht, eine Einschätzung abzugeben, wie lange dieser Krieg dauert. Unsere Gäste haben Verwandte in anderen europäischen Ländern und wollen mittelfristig dorthin emigrieren. Die Weiterreise ist aber gerade nicht so einfach. Also bleiben sie hier, bis wir organisieren können, wie es weitergeht.

Und ja, es kann lange dauern. Ich weiß nicht, ob uns irgendwann die Kraft fehlt, sie weiter bei uns wohnen zu lassen. Und ich weiß auch nicht, was dann mit ihnen wäre.

Es mag kurzsichtig sein; ich mag die Augen vor der Wahrheit verschließen; ich weiß es nicht. Momentan fühlt es sich richtig an. Und ich bin davon überzeugt: Wenn es den beiden hilft, werden wir langfristig mehr Gutes als Schlechtes daraus ziehen.

Traut ihr euch denn, sie alleine zu Hause zu lassen?

Würdest du die Frage bei einem AirbnB-Gast auch stellen?

Die schnelle Antwort ist: Ja, sie bleiben allein zu Hause.

Die tiefergehende Antwort ist aber: Ja, wir sind reich hier in Deutschland. Wir haben ein Gästezimmer zur Verfügung. Wir haben einen Garten und ein Auto. Und wir nehmen Menschen auf, die mit einem Koffer geflohen sind. Menschen, die so viel zurücklassen mussten. Ist das fair? Wäre es nicht vielleicht sogar logisch, wenn diese ankommenden Menschen etwas von unserem Wohlstand abhaben wollen?

Hinter der Frage steckt Angst. Aber hinter der Frage steckt auch das Wissen, dass es nicht immer gerecht zugeht in dieser Welt. Und wir schämen uns vielleicht unseres Reichtums im Angesicht von Menschen, die nur einen einzigen Koffer retten konnten, unseres Reichtums.

Da ist es einfacher, ihn zu verstecken. Oder ihnen zumindest keine Chance zu geben, sich etwas davon zu nehmen.

Es gibt keine einfache Antwort. Ich glaube aber, dass allein die Frage schon darauf hinweist, dass wir viel zu tun haben in dieser Welt, in der wir einander mehr fürchten als vertrauen.

Mit welchen Kosten ist die Aufnahme ukrainischer Kriegsflüchtlinge verbunden?

Ehrlich gesagt weiß ich es nicht. Wir kochen und waschen jetzt halt für sieben statt fünf Personen. Wir investieren Zeit, zum Beispiel für Behördengänge. Ich will das aber gar nicht aufrechnen. Denn es tut gut, zu helfen.

Vermutlich bekommen sie irgendwann als anerkannte Flüchtlinge Geld. Ob, wann und wieviel, weiß ich nicht. Es war auch nicht ausschlaggebend für unsere Entscheidung.

Mir ist durchaus bewusst, dass ich hier von einem sehr privilegierten Standpunkt aus schreibe. Denn es gibt auch in Deutschland leider viele Familien oder Personen, die weder ein Gästezimmer noch das Geld haben, um Menschen aufzunehmen. Ich möchte deshalb auch niemanden schlechtreden, der sich aus finanziellen Gründen gegen die Aufnahme von Geflüchteten entscheidet.

Für uns war es schlicht so, dass wir es stemmen können und entsprechend entschieden haben. Das bedeutet nicht, dass sich jemand für eine andere Entscheidung rechtfertigen müsste.

Sind die Menschen traumatisiert?

Ich will darauf nicht einfach mit Ja oder Nein antworten. Ich bin keine Psychologin und kann nicht in die Köpfe meiner Gäste schauen. Außerdem haben beide Verwandte, die nach wie vor in der Ukraine sind — manche sogar beim Militär. Jeden Moment könnten sie schreckliche Nachrichten erreichen. Das würde die jetzige Situation, in der die Erleichterung vorherrscht, drastisch ändern.

Es hilft den beiden, dass sie einen Plan haben. Sie wollen nicht abwarten, bis der Krieg vorbei ist. Sie wollen ihr Leben weiterleben. Sie sind deshalb nicht in einem Schwebezustand, sondern arbeiten aktiv darauf hin, dass sie weitermachen können.

Nichtsdestotrotz werde ich mich informieren über Möglichkeiten zu Gesprächskreisen, zur ukrainischen Gemeinde oder anderen Hilfsstellen.

Wie geht es jetzt mit den Behörden weiter?

Wir haben die beiden letzte Woche als Kriegsflüchtlinge gemeldet. Für diese Meldung hat man 90 Tage Zeit. Irgendwann wird wohl ein entsprechender Bescheid eintrudeln. Sobald er da ist, haben sie ohne weiteres Asylverfahren den Schutzstatus für ein Jahr und dürfen auch hier arbeiten.

Wie vereinbart ihr die Aufnahme von Flüchtlingen mit dem Familienalltag?

Die Kinder gehen wie gewohnt in die Schule, Vorschule und den Kindergarten. Morgens schlafen unsere Gäste meist noch, wenn die Kids los wollen. Das ist mir ganz recht so, denn so bleibt unser Ablauf so wie sonst auch.

Nachmittags bekommen die Kinder natürlich unsere Gespräche und unseren Organisationsaufwand mit. Bisher konnten wir das mit Spiel-Dates und Sportterminen gut überbrücken. Mittelfristig gehen wir davon aus, dass die Kids die beiden ins Familienleben integrieren werden. Das war bisher noch bei allen Gästen der Fall — egal, woher sie kamen.

Habt ihr keine Angst vor russischen Repressalien?

Nein, bisher nicht. Ehrlich gesagt bin ich davon überzeugt, dass die russische Regierung gerade andere Dinge zu tun hat als nachzuprüfen, welche Menschen in Deutschland Geflüchtete aufnehmen.

Und ganz ehrlich: Sollte der russische Einfluss sogar noch weiter gen Westen reichen, haben wir so oder so alle ganz andere Sorgen.

Wie bewahrt ihr eure Privatsphäre und wie verhindert einen Lagerkoller?

Die beiden schlafen im Gästezimmer. Nachts gibt es entsprechend keinerlei Einschränkungen. Im Bad konnten wir bisher gut alle nacheinander klarkommen. Der Tisch ist groß genug. Und dank des Frühlingswetters sind wir alle viel draußen; da ist der Lagerkoller bisher gar kein Prbolem.

Unsere Gäste gehen viel spazieren. Sie sind aber auch viel damit beschäftigt, ihre Zukunftspläne zu konkretisieren und umzusetzen.

Hast du irgendwelche Sorgen in Bezug auf das Projekt?

Gerade ist vor allem meine Sorge, dass uns jeden Tag die schlechte Nachricht erreichen könnte, dass eine Person umgekommen ist, die ihnen nahe stand.

Wie kommt ihr damit klar, dass der Krieg jetzt noch viel präsenter ist?

So blöd es klingt: Für mich persönlich ist es jetzt einfacher, mit dem Krieg umzugehen, als vorher. Denn jetzt fühle ich mich immerhin in meinem begrenzten Wirkungsbereich nützlich.

Ich musste mich in den letzten Tagen häufig an den Unterschied zwischen Interessensbereich und Einflussbereich erinnern. Natürlich ist es in meinem Interesse, dass wir auf der Erde alle friedlich miteinander leben. Hey, ich habe mich sogar jahrelang in der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen engagiert, weil ich davon überzeugt bin, dass ein globaler Frieden am besten erreicht wird, wenn wir mit einander sprechen statt übereinander.

Vorher fühlte ich mich hilflos. Jetzt weiß ich, dass ich zumindest diesen beiden Menschen, die bei uns leben, helfe. Und zwar sehr konkret. William Ashburns Geschichte vom Seestern kommt ins Gedächtnis.

Ich habe immer noch den großen Interessensbereich, auf den ich kaum Einfluss habe. Ich habe aber auch wieder ein wenig Wirkmächtigkeit gewonnen, indem wir Menschen bei uns aufgenommen haben.

Dennoch ist es immer wieder komisch. Ich freue mich über Kleinigkeiten oder rege mich über Kleinigkeiten auf, während anderswo die Menschen um ihr Leben fürchten.

Klar: Das war auch vorher schon so. Es ist jetzt nur noch viel präsenter bei den meisten von uns.

Wenn wir uns nicht an den schönen Dingen im Leben freuen, verlieren wir den Grund, warum wir für Frieden, Miteinander und Veränderung eintreten. Sehr geholfen hat mir in diesem Zusammenhang das Gespräch von Brené Brown und Karen Walrond. Die beiden sprechen sehr ausführlich darüber, wie wir uns die Freude am Leben erhalten — gerade auch, wenn die Welt um uns herum zusammenbricht. Du findest das Gespräch auf der Seite des Podcasts Unlocking Us.

Ich werde mich niemals dafür entschuldigen, mein Herz für Freude und Schönheit zu öffnen — sogar dann nicht, wenn die Welt auseinanderbricht — weil Freude und Schönheit der Antrieb für meinen Aktivismus sind.

Karen Walrond im Gespräch mit Brené Brown im Podcast Unlocking Us.

Warum jetzt, aber nicht 2015?

Die Frage sticht. Zum einen tut sie weh, weil ich mich geärgert fühle: Hey, immerhin tue ich jetzt was, das könntest du auch mal honorieren! Andererseits tut sie aber natürlich auch weh, weil sie berechtigt ist. Warum haben wir 2015 nicht schon geflüchtete Menschen aufgenommen — damals vermutlich aus Syrien, aus Afghanistan oder dem Irak?

Die kurze, aber auch viel zu oberflächliche Antwort lautet: Mein Mann wollte damals nicht.

Das wird aber dem Ganzen nur bedingt gerecht, denn immerhin hätte ich mich auch einfach durchsetzen können. Stattdessen habe ich mich relativ schnell damit abgefunden.

Die Situation der geflüchteten Menschen 2015 ging mir sehr nah. Ich war, würde ich rückblickend sagen, vermutlich sogar emotionaler als heute. Insofern hätte es mir vermutlich gut getan, jemanden aufzunehmen. Doch gleichzeitig war ich so tief mit anderen Dingen beschäftigt, dass es für mich okay war, niemanden aufzunehmen. Unser erstes Kind war gerade mal ein Jahr alt.

Ich habe damals andere Wege gefunden, um Menschen zu unterstützen. Vor allem habe ich Kampagnen und Initiativen unterstützt und ich habe versucht, Wissen anzuhäufen über Fluchtursachen, über erfolgreiche Integration und über eine gelungene Willkommenskultur. Damals war das mein Weg. Jetzt ist es ein anderer.

Es ist für mich selbst schwierig, das so anzuerkennen. Auch hierbei hat mir dann das Gespräch zwischen Brené Brown und Karen Walrond geholfen: Sie besprechen, dass ein Auf und Ab ganz natürlich ist. Manchmal können wir uns voller Tatendrang in etwas stürzen. Manchmal brauchen wir mehr Abstand.

„There’s an ebb and there’s a flow, and I will say that the older I get, I’m starting to believe that that is the natural order of things.“

Karen Walrond im Gespräch mit Brené Brown (Unlocking Us)

Nicht immer kann man volle Pulle geben. Ich brauche mich dafür nicht zu schämen. Ich tue, was ich kann, wenn ich es kann.

Was kann ich tun, wenn ich auch Geflüchtete aus der Ukraine aufnehmen will?

Am einfachsten ist es, sich bei unterkunft-ukraine.de zu melden oder direkt bei der Verwaltung eures Landkreises. Von dort können die Menschen an euch vermittelt werden. Natürlich könnt ihr dabei sagen, wie viele Betten ihr stellen könnt, in welchem Zeitraum die Unterbringung möglich ist und welche Sprachen ihr sprecht.

Und wenn es gerade für euch nicht passt, fühlt euch nicht schlecht. Es gibt viele verschiedene Möglichkeiten, die Menschen zu unterstützen, die in diesem Krieg leiden. Es nutzt nichts, wenn ihr euch selber daran kaputt macht. Wählt den Weg, der gut zu euch passt. Danke für eure Hilfe!

Foto: Marjan Blan

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