„Ist Stillen rechtsradikal?“ war mit Abstand der meistgesuchte Begriff, der Menschen im Juni auf meinen Blog geführt hat. Das nehme ich zum Anlass darüber zu schreiben.
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Einmal im Monat schickt mir Google eine Mail, in der steht, wie häufig mein Blog über bestimmte Suchanfragen geklickt wurde.
Selten sind da Überraschungen dabei. Im Mai allerdings hat es mich dann doch eiskalt getroffen: Die mit Abstand häufigste Suchanfrage war „ist Stillen rechtsradikal?“
Ehrlich: Damit habe ich nicht gerechnet.
Nach ein bisschen hin und her habe ich mich dann entschlossen, dazu diesen Beitrag zu schreiben.
Für all diejenigen, die nur kurz Zeit haben, fasse ich die Quintessenz meiner Position schon mal zusammen:
Nein, Stillen ist nicht rechtsradikal.
Stillen ist (heutzutage) erstmal einfach eine persönliche Entscheidung, genau wie die Frage, ob ich Fleisch esse, ein Auto fahre, überhaupt Kinder in die Welt setze oder welche Art von Serien ich schaue.
Zwischenfazit 1: Stillen ist nicht rechtsradikal.
Stillen ist politisch
Damit hört der einfache Teil dieses Blogbeitrags leider (?) auch schon auf.
Denn wie so häufig gilt auch hier: Das Private ist politisch. Wie könnte es auch anders sein in einer patriarchalen Weltordnung!?
Ob Stillen politisch gewollt ist oder nicht, ist also eine spannende Frage.
Dazu habe ich vor einiger Zeit ausführlich das ausgezeichnete Buch „Warum Stillen politisch ist“ von Gabrielle Palmer rezensiert.
Hier kommt die Kurzfassung: Stillen wurde im 20. Jahrhundert von vielen Kräften zur zweitbesten Lösung degradiert; vor allem natürlich von den entsprechenden babynahrungproduzierenden Firmen — aber nach und nach auch von Hilfsorganisationen oder Regierungen.
Glücklicherweise gibt es hier langsam ein Umdenken, sodass künstliche Babynahrung nicht mehr grundsätzlich als die beste Option angepriesen wird — erst recht nicht in Regionen, in denen die Voraussetzungen für die Nutzung von Fläschchenmilch nicht gegeben sind.
Dennoch gilt: Wie gut die Voraussetzungen dafür sind, dass Frauen stillen können (z.B. rechtliche Absicherung am Arbeitsplatz, Aufklärungskampagnen, finanziell erschwingliche Unterstützung bei Stillproblemen), hängt stark von den politischen Rahmenbedingungen ab.
Zwischenfazit 2: Stillen ist politisch
Kann man Stillen einer politischen Richtung zuordnen?
Auch in diesem Jahr gibt es einen Geburtsgeschichten-Adventskalender und ein paar Adventsverlosungen. Sei dabei!
Wenn wir davon ausgehen, dass Stillen politisch ist, dann stellt sich die nächste Frage: Kann man Stillen (oder eine pro-Stillen eingestellten Werteordnung) einer bestimmten politischen Denkrichtung zuordnen?
Aus meiner Sicht gibt es hier keine eindeutige Einteilung. Im Gegenteil könnten wir die Förderung von Stillen sogar bei mehreren Denkrichtungen verorten:
- Die Ablehnung von Fläschchenmilch kann aus einer linken (wirtschaftskritischen oder sogar antikapitalistischen) Haltung entspringen, frei dem Motto: Keine Macht den internationalen Großkonzernen
- Das Stillen kann Ausdruck eines konservativen Mutterbildes sein, in dem die Mutter alles für ihr Kind opfert
- Das Stillen kann als Ausleben der persönlichen Freiheit gesehen werden — genauso wie die Flasche
- Das Stillen kann feministische Gründe haben, im Stil von: Mein Körper kann das, ich brauche dafür niemand anderen
- Stillen kann finanzielle Gründe haben: Es ist wesentlich preiswerter als Fläschchenmilch
- Das Stillen kann als Grund gesehen werden, warum Frauen nach der Geburt eines Kindes die hauptsächliche Betreuung übernehmen sollten und deshalb zu Hause bleiben sollten. (Oder Arbeitengehen wird mit dem Zwang zum Abstillen verbunden.)
(Klar: Die meisten Frauen, die stillen, tun das erst mal nicht wegen einer der aufgeführten Gründe, sondern weil sie schlicht der Meinung sind, dass das für das Baby und sie selbst förderlich ist. Aber darum geht es hier ja nicht, sondern um die politische Einordnung.)
Bestimmt hast du beim Lesen mancher dieser Gründe auch schon gedacht: So könnte eine eine rechtsradikale Person argumentieren. Und bei anderen Gründen hast du dir gedacht, dass das ja mal so gar nicht nach Rechtsextremität klingt.
Und damit wird eigentlich auch schon deutlich:
Zwischenfazit 3: Stillen kann für verschiedene politische Strömungen instrumentalisiert werden.
Stillen kann von linken und linksradikalen Kräften instrumentalisiert werden, wenn es gegen die internationalen Großkonzerne und gegen neokoloniale Ideen in der Entwicklungszusammenarbeit genutzt wird.
Stillen kann von liberalen Kräften instrumentalisiert werden, wenn es darum geht, die eigene Entscheidung in den Vordergrund zu rücken.
Stillen kann von konservativen, rechten und rechtsradikalen Stimmen genutzt werden, um Frauen auf die Rolle der Mutter festzulegen.
Das bedeutet nicht, dass Stillen an sich einer der drei Denkrichtungen vorbehalten wäre. Stillen ist erst mal einfach nur Stillen. Es kommt auf die sehr konkrete Begründung an, ob diese dem rechtsradikalen Spektrum zuzuordnen ist.
Wann ist Stillen rechtsradikal?
Nun ist also die große Frage: Wann ist Stillen rechtsradikal?
Aus meiner Sicht ist Stillen vor allem dann rechtsradikal, wenn es eingebettet wird in ein rechtsradikales Lebensbild. Dann steht nicht das Wohl des Kindes und der Mutter an erster Stelle, sondern das Bild, das damit gefestigt wird. (Das heißt nicht, dass die entsprechenden Mütter nicht vielleicht trotzdem gerne stillen!) Das entsprechende Gesellschaftsbild lässt dann keine anderen Lebensentwürfe zu und fordert exklusiv, die einzige Möglichkeit für ein gutes Leben zu bieten. Sprich: Stillen ist der einzig richtige Weg.
Exkurs: Gang zu McDonald’s ist politisch
Nicht nur Stillen kann politisiert werden. Auch der Gang ins Fast-Food-Restaurant kann politisch sein. In einem Radio-Beitrag hörte ich vor einiger Zeit, dass Menschen, die sich von der Neonazi-Szene lossagen, als eines der Ausstiegsrituale zu McDonald’s gehen. Vorher haben sie diesen „amerikanischen Imperialisten“ gemieden wie der Teufel das Weihwasser. Aus dem Kopf zitiere ich den Radiobeitrag: „Ein guter Deutscher ist Kartoffeln und Fleisch, keine Burger.“
Ich gehe nicht zu Mc Donald’s. Das liegt aber nicht an meiner politischen Einstellung, sondern daran, dass ich das Essen nicht mag und es hier in der Gegend noch nicht mal einen solchen Laden gibt…
Fazit: Schmeiß Menschen nicht sofort in einen Topf, sondern frag nach ihrer Motivation für etwas.
Daraus folgen dann die folgenden Ideen:
- Stillen ist Liebe und nicht-Stillen ist Vernachlässigung.
- Stillen ist ein Grund, weshalb Frauen die hauptsächliche Betreuung kleiner Kinder übernehmen sollten.
- Stillen ist ein Grund, Frauen aus dem Erwerbsleben und der Öffentlichkeit fernzuhalten.
Rechtsradikalität ist mehr als Springerstiefel
Früher dachte ich, Neonazis seien an Glatze, Klamotten von Th*r Stein*r (ich nenne die Marke nicht, um keinen weiteren Zulauf zu schaffen) und anderen äußeren Merkmalen leicht zu erkennen. Mittlerweile weiß ich, dass das nicht so ist.
Rechtsextreme können recht zivil aussehen. Und sie wissen, wie man sich Themen mit hoher emotionaler Aufladung zu Eigen macht. Zu diesen hoch emotionalen Themen gehört definitiv für viele junge Familien das eigene Kind. Klar: Wir alle wollen das Beste für unsere Kinder. (Was das jeweils bedeutet, kann übrigens krass unterschiedlich sein…)
Also könnten wir davon ausgehen, dass sie sich auch das Thema Stillen auf die Fahnen schreiben.
Spoiler: Zumindest in den Wahlprogrammen ist das nicht so.
Ich habe die Wahlprogramme der im Bundestag vertretenden Parteien durchsucht. Das Ergebnis: Das Wort „Stillen“ kommt in keinem der Wahlprogramme vor.
(Was sie sonst so vor der Bundestagswahl zum Bereich Geburtshilfe wollten, hab ich hier mal zusammengefasst: Bundestagsparteien und ihre Position zur Geburtshilfe)
Wenn sich also keine Partei im Wahlprogramm stark macht für’s Stillen, warum dann die ganze Aufregung?
Ganz einfach: Parteien sind mehr als Wahlprogramme. Parteien sind auch Pressemitteilungen, Posts in den sozialen Medien, Interviews, Grundsatzprogramme. Interviews, persönliche Gespräche…
Und da ist momentan ein recht interessanter (und für mich erschreckender) Wandel im Gange:
Lange Zeit war Bedürfnisorientierung eher etwas für Alternative, gesellschaftskritische, politisch linke Menschen. Überspitzt gesagt waren die konservativen Kräfte eher auf Gehorsam, die gesellschaftlich linken Kräfte eher auf Bedürfnisorientierung gepolt. (Ich weiß, die Aussage gilt nicht für alle Familien gleichermaßen…)
Das ändert sich nun. Bedürfnisorientierung ist mittlerweile im Mainstream angekommen. Und das Konzept wird genauso zweckentfremdet wie andere Konzepte. Besonders geschieht dies seit einiger Zeit von rechts.
Nora Imlau hat das in ihrem Beitrag Falsche Freude auf ihrem Blog gut beschrieben. Ich fasse daraus die wichtigsten Punkte zusammen:
- Rechtsextreme mögen Familienthemen, weil die eher anschlussfähig sind als Hass auf Ausländer*innen
- Der Anspruch der Überlegenheit von „natürlichen“ Gegebenheiten lässt keine anderen Lebensentwürfe zu
- Bedürfnisorientierte Menschen sind häufig systemkritisch und können sich von rechter Systemkritik abgeholt fühlen
Und das ist ein Problem.
Denn rechter Ideologie schließt einen wesentlichen Bestandteil der Bedürfnisorientierung aus, nämlich auch die Bedürfnisse der Eltern in den Blick zu nehmen:
Es ist eben nicht für jede Mutter besser, vier Jahre mit dem Kind zu Hause zu bleiben statt zu arbeiten. Es ist für manche Mütter besser. Nicht für alle.
Es ist eben nicht für jede Mutter besser, zu stillen.
Es ist nicht für jede Mutter besser, ihr Kind vaginal zu gebären. Eine Hausgeburt ist nicht für jede Mutter der beste Weg.
Rechtsradikalität bedeutet heutzutage häufig eine Glorifizierung des Mutterbildes, wie es angeblich in der guten alten Zeit war (je nach Person sind damit unterschiedliche Wunschzustände gemeint, in denen wahlweise Ehen arrangiert wurden, Vergewaltigung in der Ehe kein Straftatbestand war, Frauen nur arbeiten durften, wenn sie das mit den ehelichen Pflichten vereinbaren konnten und Frauen grundsätzlich am besten eine männliche Person fragten, um zu wissen, was sie gerade wollen sollten).
Da passt es super, dieses Mutterbild auch mit Stillen zu unterfüttern.
Fun Fact: Diese gute alte Zeit gab es gesamtgesellschaftlich gesehen vermutlich nie. Um Arnold Schwarzenegger zu zitieren: Wer sich die Vergangenheit wieder wünscht, hat keine Ideen für die Zukunft.
Das Problem ist, dass die Glorifizierung für sich beansprucht, die einzige Lösung zu sein. Und das geht an der Lebensrealität vieler Menschen vorbei.
Wöchtenliche Updates zu neuen Beiträgen
Ein Aufruf
Stillen als Idee ist nicht neu. Stillen als Thema in der Politik ist auch nicht neu. Ob es nun um Stillen in der Öffentlichkeit in den USA geht oder um Stillen am Arbeitsplatz hier in Deutschland: Stillen bleibt politisch. Doch wir dürfen nicht zulassen, dass Stillen (oder Hausgeburten oder bedürfnisorientierte Beziehung) rechtsradikalen Kräften überlassen werden. Denn dazu sind sie viel zu wichtig.
Nochmals zitiere ich an dieser Stelle Nora Imlau, denn sie hat es sehr schön auf den Punkt gebracht:
Weder eine natürliche Geburt, noch das Stillen, noch der Verzicht auf Betreuung oder die Wahl einer Alternativschule machen irgendwen zum Nazi. Doch wenn wir der Unterwanderung der bindungsorientierten Elternschaft Widerstand leisten wollen, genügt es nicht, sich hinzustellen und die eigenen demokratischen Grundwerte zu beteuern. Kein Nazi zu sein, reicht im Kampf gegen Faschismus nicht aus. Was es braucht, ist echter Antifaschismus – die klare Positionierung, dass Rechte und ihre Ideologien hier nichts verloren haben, auch nicht unter dem Deckmantel unauffälliger Familienthemen.
Nora Imlau: Falsche Freunde, https://www.nora-imlau.de/falsche-freunde/
Und damit ist dann auch alles gesagt: Wenn du stillst, bist du nicht automatisch Nazi. Wenn du aber anderen Menschen absprichst, eigene Entscheidungen zu treffen (die nicht mit deinen übereinstimmen), dann kann es sein, dass das Stillen bei dir ein Symptom von Rechtsradikalität ist.
Falls du noch mehr lesen willst über das Problem von Rechtsradikalität im Geburtssystem, schau doch gerne mal hier rein: Hausgeburten und Rechte Gesinnung.
Katharina Tolle
Wie schön, dass du hier bist! Ich bin Katharina und betreibe seit Januar 2018 diesen Blog zu den Themen Geburtskultur, selbstbestimmte Geburten, Geburtsvorbereitung und Feminismus.
Meine Leidenschaft ist das Aufschreiben von Geburtsgeschichten, denn ich bin davon überzeugt, dass jede Geschichte wertvoll ist. Ich helfe Familien dabei, ihre Geschichten zu verewigen.
Außerdem setze ich mich für eine selbstbestimmte und frauen*-zentrierte Geburtskultur ein. Wenn du Kontakt zu mir aufnehmen möchtest, schreib mir gern!
Danke Katharina, ein so wichtiges Thema! Es ist nicht mehr nur ein kleines Feuer, es ist längst zum Flächenbrand geworden und diese braune Brühe ist in so vielen Bereichen mittlerweile zum Würzmittel geworden, dass einem schlecht werden könnte!
Hallo du Tolle,
nur als Info an Dich: Nora Imlau hat das Buch “Gebären wie eine Feministin” als Transphob bezeichnet. Daraufhin -nach einer unfruchtbaren Korrespondenz zwischen Uta und Milli Hill- hat Uta (utasglueck.de) ihre positive Rezension des Buches gelöscht und mir geschrieben, sie arbeite nicht mit Transphoben (oder solchen, die diese unterstützen) zusammen.
Nora Imlau hat -obwohl sie auf Insta schreibt, dass sie gerne in den Dialog geht- meine Anfrag nicht beantwortet, sondern mich einfach geblockt.
Also, ich bin (noch) nicht als Nazi bezeichnet worden, aber bei den derzeitigen Hate-Kaskaden ist es von “Transphob” zu “TERF” zu “Nazi” ja nicht weit….
LG Gerit