Geburtsgeschichten aufschreiben: Zeit zum Erzählen

In diesem Beitrag plaudere ich ein bisschen aus dem Nähkästchen: Wie läuft das eigentlich ab, wenn ich eine Geburtsgeschichte für jemanden aufschreibe? Und was ist die wichtigste Zutat beim Schreiben?

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Wenn ich für eine Familie Geburtsgeschichten schreibe, dann läuft das meist so: Wir telefonieren zuerst, um ein paar Eckdaten zu klären und einen Termin zu machen für unser erstes langes Gespräch.

Für dieses Gespräch veranschlage ich zwischen anderthalb und zwei Stunden. Meistens reagieren die Menschen darauf ungläubig: „So lange brauche ich nicht. Normalerweise bin ich nach zehn bis fünfzehn Minuten fertig, wenn ich erzähle, wie mein Kind zur Welt kam.“

Bild: thedarknut

Ich sage dann, dass sie sich trotzdem mindestens 90 Minuten nehmen sollen.

Wenn wir uns dann treffen — meist online, selten persönlich –, herrscht fast immer eine etwas peinliche Stille. Wie fängt man an? Wie erzählt man einer fremden Person von etwas so Intimem wie der Geburt des eigenen Kindes?

Klar, nicht allen Personen geht es so. Besonders, wenn beide Elternteile anwesend sind, spielen sie sich häufig von Anfang an die Bälle zu.

Wenn das nicht der Fall ist, fange ich mit dem an, was für die meisten Menschen sofort greifbar ist:

Name, Geburtsdatum, Gewicht, Größe, Kopfumfang.

Wo kam das Kind zur Welt? Kam es am errechneten Termin?

Meistens braucht es gar nicht mehr von meiner Seite. Die Frage des Geburtsortes ist für die meisten Menschen ein Einstiegspunkt, um mehr zu erzählen. Sie erzählen, ob sie diesen Geburtsort vorher bewusst ausgesucht hatten oder ob es eine eher unbewusste Entscheidung war.

Und auch der errechnete Geburtstermin bietet einen guten Einstieg, denn fast alle haben etwas dazu zu sagen, wie sie sich fühlten, als die Geburt startete und was sie eigentlich an diesem Tag geplant hatten. Bei geplanten Bauchgeburten ist die Frage meist auch ein guter Einstieg, weil sie den Weg ebnet zu Fragen der Kommunikation zwischen medizinischem Personal und Eltern.

Danach ist meine Aufgabe mit wenigen Worten beschrieben: Ich höre zu.

Ich höre zu

Die allermeisten Menschen finden es schwieriger, einen Anfang zu finden, als weiterzuerzählen.

Sie haben wesentlich mehr zu erzählen als sie in den prognostizierten fünfzehn Minuten unterbringen können.

Die Ansage, sie seien so schnell fertig, kommt ganz einfach aus der Erfahrung: Kaum eine frischgebackene Mutter, kaum ein frischgebackener Vater, bekommen nämlich von ihrem Umfeld die Zeit, wirklich frei von der Leber weg zu erzählen.

Menschen, die selber noch nicht geboren haben, finden es oft anstrengend, diese Dinge zu hören.

Menschen, die bereits Geburten erlebt haben, beginnen leider häufig schnell mit Vergleichen. Oder sie unterbrechen, um von ihren eigenen Erfahrungen zu berichten.

Dabei sind weder die Einordnung noch der eigene Erfahrungsbericht das, was gerade im Fokus stehen sollte.

Doch wenn wir immer wieder abgewürgt werden beim Erzählen oder das Gefühl haben, dass wir genauso gut mit dem Sofa reden könnten oder der Wand oder dem Katzenklo, dann gewöhnen wir uns eine Kurzversion an.

Ein paar Beispiele für solche Kurzzusammenfassungen, die ich so oder ähnlich in meiner Arbeit erlebt habe:

  • Erstes Kind, lange Wehen, PDA, Geburt in Rückenlage.
  • Erstes Kind, kam im Krankenwagen auf dem Weg zur Klinik.
  • Fünftes Kind, kam bei der Geburtstagsfeier des Ältesten zu Hause.
  • Zweites Kind, geplanter sanfter Kaiserschnitt. Vorher viel Widerstand vom Personal, ich war stark genug, mich durchzusetzen.
  • Erstes Kind, Hausgeburt mit Hebamme im Wasser.
  • Erstes Kind, Kaiserschnitt wegen HELLP-Syndroms.
  • Kind wurde tot geboren in der 36. Schwangerschaftswoche.
  • Wassergeburt im Krankenhaus.
  • Spontane Zwillingsgeburt nach Einleitung.

All diese Beschreibungen haben eines gemeinsam: Sie geben wenig bis keinen Aufschluss darüber, wie sich die Gebärenden dabei gefühlt haben.



Es geht viel zu häufig um das Ergebnis: Das hoffentlich gesunde Kind. Und ja, es ist wunderbar, wenn das Kind gesund zur Welt kommt. Kinder, die nicht gesund zur Welt kommen, werden aber nicht weniger geliebt und die Geburtsarbeit ist auch dann ein Prozess, der nicht verschwiegen werden sollte.

Zurück zum Erzählen: Die meisten Menschen berichten nach der ersten Kurzversion dann etwas genauer vom Verlauf.

Sie berichten aus der Schwangerschaft, von Vorsorgeuntersuchungen, von Geburtsvorbereitungskursen, von Reaktionen anderer Menschen, von der Suche nach einer Hebamme oder Büchern, die sie gelesen haben.

Doch es dauert meist, bis auch die Emotionen erzählt werden.

Und das ist keineswegs schlimm. Immerhin bin ich immer noch eine fremde Person, der da gerade etwas erzählt wird. Es ist doch klar, dass wir uns da erst einmal herantasten.

Reagiere ich wirklich unvoreingenommen?
Bin ich wirklich so aufmerksam?
Unterbreche ich nicht im entscheidenden Moment?
Wie gehe ich mit Tränen, mit Wut oder Scham um?

All das können meine Kund*innen im ersten Gespräch nicht wissen.

Also erzählen sie vorsichtig. Sie erzählen von denjenigen Dingen, bei denen sie überzeugt sind, dass das nichts Besonderes sei.

Sie erzählen von Fakten und lassen ihre Gefühle oder Beweggründe erstmal noch weg.

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Meist füllt die erste Version der Geschichte die anderthalb Stunden voll aus.

Ich weiß dann viel über zeitliche Abläufe, über anwesende Personen, über die eine oder andere medizinische Intervention.

Bild: Hu Jiarui

Das alles bringe ich nach dem Gespräch in eine Reihenfolge, schreibe daraus das Gerüst der Geschichte.

Ich frage

Und für das zweite Gespräch bringe ich Fragen mit. Fast alle beginnen mit „wie fühltest du dich?“

  • Wie fühltest du dich, als du den positiven Schwangerschaftstest in der Hand hattest?
  • Wie fühltest du dich, als dir gesagt wurde, etwas sei nicht in Ordnung?
  • Wie fühltest du dich, als der errechnete Termin kam und ging?
  • Wie fühltest du dich beim Blasensprung?
  • Wie fühltest du dich, als man dir dein Baby auf die Brust legte?

Manchmal erinnern sich Menschen nicht daran, wie sie sich fühlten. Das ist okay. Ich kann die Geschichte auch ohne diese Info schreiben. Und wer weiß, vielleicht erfahre ich es zwischen den Zeilen doch noch.

Unser Unterbewusstsein ist da manchmal clever genug, um uns Dinge zwischen den Zeilen sagen zu lassen, die wir uns nicht trauen, zu sagen — besonders, wenn es etwas ist, von dem wir glauben, dass es nicht erwünscht wäre.

Auch hier habe ich Beispiele:

  • Vielleicht ist es dir peinlich, dass dir gesagt wurde „Stellen Sie sich mal nicht so an“.
  • Vielleicht willst du dich nicht daran erinnern, dass die Vaginaluntersuchung weh tat.
  • Vielleicht hast du Lust statt Schmerz empfunden während der Geburt und glaubst, du seist nicht mehr ganz normal.
  • Vielleicht wolltest du als Partner*in etwas Bestimmtes nicht tun, hast es aber dennoch getan, weil du glaubtest, es würde von dir erwartet (so ging es meinem Mann bei der Geburt unseres Ältesten mit dem Durchschneiden der Nabelschnur).
  • Vielleicht magst du nicht erzählen, dass du während der Geburt auf’s Klo musstest. Das geht niemanden etwas an.

Dieses zweite Gespräch ist meist noch einmal wesentlich offener als das erste. Kein Wunder, oder? Immerhin kennen wir uns jetzt schon ein bisschen besser.

Die Antworten aus diesem zweiten Gespräch sind das Herzstück der Geschichte. Denn das ist es, worum es wirklich geht: Um aus einem einfachen Bericht eine Liebesgeschichte zu machen, brauchen wir Gefühle. Das Einarbeiten der Gefühle, das Finden der richtigen Worte, das Sichtbarmachen von dem, was im medizinischen Bericht unsichtbar bleibt, macht jede Geburtsgeschichte einzigartig.

Wie umgehen mit starken negativen Emotionen?

Ich habe keine psychotherapeutische Ausbildung. Viele der Gefühle, die beim Erzählen von Geburtserfahrungen aufkommen, kann ich halten. Doch manchmal wird es zu viel. Bei starken Traumata weiß ich: Ich bin nicht die richtige Person. Zumindest nicht alleine. Bei Bedarf kooperiere ich mit Traumaspezialist*innen oder empfehle diese.

Denn wenn ich das Gefühl habe, die Geburtserfahrung hat die Eltern des Kindes überwältigt, ist es für alle Beteiligten besser, Profis ans Werk zu lassen. Ich bin Profi im Schreiben. Ich bin kein Profi bei der Bearbeitung handfester Traumata.

Das heißt nicht, dass ich nur schöne Geschichten aufschreiben würde.

Im Gegenteil, die meisten Frauen, die zu mir kommen, wollen ihre Erfahrungen aufschreiben lassen, weil irgendetwas nicht so lief, wie gewünscht. (Interessanterweise sind bisher alle der wenigen Väter, die zu mir kamen, bei wunderbaren Geburten dabei gewesen.)

Die entscheidende Frage ist, ob sie ihre Erfahrungen bereits so weit aufgearbeitet haben, dass sie ihre Emotionen selbst halten können. Wenn das gegeben ist, helfe ich gerne, ihre Geschichte in die passenden Worte zu packen.

Hört zu!

Klar: Ich bin mittlerweile recht geübt darin, Emotionen in Worte zu fassen. Ich höre viel zu, stelle ein paar Fragen und schreibe dann daraus eine einzigartige Liebesgeschichte.

Doch selbst wenn du einfach nur zu Besuch bist bei Leuten, die vor kurzem ein Kind bekommen haben, tu mir bitte den Gefallen und höre zu.

Eltern fühlen sich so häufig übergangen, überhört. Sei ein gutes Gegenbeispiel.

Folgende Sätze kannst du aus deinem Repertoire streichen:

  • „Sei froh, dass alles gut ist.“
  • „Bei uns war das alles viel schlimmer.“
  • „Du wirst drüber hinwegkommen.“

Noch viel mehr unangemessene Sprüche findest du hier.

Schreib dir stattdessen folgende Sätze hinter die Ohren:

  • Wie fühltest du dich?
  • Wie ging es weiter?
  • Hmmm.
  • Und dann?
  • Wow.

Kommentier nicht, werte nicht, ordne nicht ein. Lass die Menschen erzählen.

Denn die wichtigste Zutat beim Aufschreiben von Geburtserfahrungen ist das Zuhören.

Wenn es dir persönlich zu viel wird, sag das ganz ehrlich:

„Hey, das ist so krass, ich möchte das gerade nicht hören.“

Das ist nicht nur okay, das ist wichtig. Und wenn es ehrlich ist, wird es auch kein Problem sein.

Viel mieser ist es, dass wir es normalisiert haben, dass wir nur ein paar Minuten von unserer Geburtserfahrung erzählen und glauben, damit sei alles gesagt.

Um das zu ändern, schreibe ich Geburtsgeschichten.

Und ich veranstalte immer wieder mal Erzählcafés online und offline.

Falls du Lust hast, bei einem Café dabei zu sein oder deine Geburtserfahrungen aufschreiben zu lassen, melde dich einfach bei mir.

Und bis dahin wünsche ich dir, dass du die Zeit findest, deine Geburtserfahrung so zu erzählen, wie es dir gut tut — und nicht so, wie unsere Gesellschaft es normalisiert hat.

Katharina Tolle

Wie schön, dass du hier bist! Ich bin Katharina und betreibe seit Januar 2018 diesen Blog zu den Themen Geburtskultur, selbstbestimmte Geburten, Geburtsvorbereitung und Feminismus.

Meine Leidenschaft ist das Aufschreiben von Geburtsgeschichten, denn ich bin davon überzeugt, dass jede Geschichte wertvoll ist. Ich helfe Familien dabei, ihre Geschichten zu verewigen.

Außerdem setze ich mich für eine selbstbestimmte und frauen*-zentrierte Geburtskultur ein. Wenn du Kontakt zu mir aufnehmen möchtest, schreib mir gern!

Foto von Katharina

1 Gedanke zu „Geburtsgeschichten aufschreiben: Zeit zum Erzählen“

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