Trauma nach „normaler“ Geburt? Gastbeitrag zu PTBS und Tokophobie von Dr. Ute Taschner

Dr. Ute Taschner setzt sich seit vielen Jahren für vaginale Geburten nach Kaiserschnitt ein, aber auch für eine traumasensible Geburtshilfe. Heute darf ich ihren Gastbeitrag veröffentlichen, in dem sie erklärt, warum auch „normale“ Geburten manchmal traumatische Folgen haben, wann daraus eine posttraumatische Belastungsstörung wird und wie viele Frauen von Tokophobie (der Angst vor der Geburt) betroffen sind.

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Um denjenigen gerecht zu werden, die sich mit den Worten „Frau“ oder „Mutter“ nicht identifizieren können, obwohl in ihrer Geburtsurkunde „weiblich“ steht, habe ich mich dazu entschlossen, in meinen eigenen Beiträgen „Mutter“ und „Frau“ jeweils mit dem Inklusionssternchen zu versehen. Ihr werdet also Frau* oder Mutter* lesen (falls der Text von mir kommt und nicht von anderen Menschen). Geschlechtergerechte und inklusive Sprache ist mir ein Herzensthema, allerdings ist (meine persönliche und die gesellschaftliche) Entwicklung dazu noch lange nicht abgeschlossen. Mal sehen, wie ich es in Zukunft angehe. Mehr zum Thema liest du unter anderem hier: Sollte ein Geburtsblog geschlechtsneutral sein, Gebären wie eine Feministin und Sex, Gender, Geburten und die deutsche Sprache.

„Wie kann es sein, dass eine Mutter von einer ’normalen‘ Geburt traumatisiert ist?“

eine Frage bewegt derzeit viele Hebammen, die mich kontaktieren:

„Wie kann es sein, dass eine Mutter von einer ’normalen‘ Geburt traumatisiert ist?“

Diese Frage berührt einen wichtigen Punkt im Verständnis von traumatisierenden Erfahrungen. Eine Hebamme schrieb mir kürzlich: „Ich habe eine Mutter nach bestem Wissen und Gewissen bei der Geburt begleitet. Nun höre ich, dass sie die Geburt als sehr belastend erlebt hat. Was habe ich falsch gemacht?“

Hier ist die Erklärung aus meiner Sicht: Eine traumatisierende Erfahrung entsteht nicht zwangsläufig durch „Fehler“ in der Begleitung. Vielmehr spielen die individuellen Voraussetzungen, die jede Mutter bereits mitbringt, eine entscheidende Rolle.

Foto von Solen Feyissa

Deshalb wird oftmals das gleiche Geburtserlebnis von verschiedenen Frauen völlig unterschiedlich bewertet und verarbeitet wird. Dafür müssen wir drei zentrale Zeiträume betrachten:

Traumarelevante Zeiträume & Faktoren

1. Bedeutsame Faktoren VOR der Geburt:

  • Bereits bestehende psychische Vorerkrankungen
  • Ausgeprägte Geburtsängste
  • Frühere traumatische Erfahrungen
  • Schwangerschaftskomplikationen

2. Einflüsse WÄHREND der Geburt:

  • Gefühl des Alleingelassenseins
  • Erleben von Kontrollverlust
  • Verletzungen oder starke Blutungen
  • Medizinische Komplikationen
  • Trennung vom Baby

3. Belastungen NACH der Geburt:

  • Anhaltender Schlafmangel
  • Psychische oder soziale Belastungen
  • Begrenzte Verarbeitungsmöglichkeiten
  • Fehlende Unterstützung im Familiensystem

Kostenloses Info-Webinar: Traumatische Geburten verstehen

(bitte zum Lesen aufklappen)

Traumatische Geburten verstehen

Risiken, Anzeichen und Unterstützungsmöglichkeiten

Einfühlsame Begleitung und Unterstützung von Müttern und Begleitpersonen nach schwierigen Geburtserlebnissen.

Ein Info-Webinar für Hebammen, Ärztinnen und alle Fachpersonen, die Mütter und Familien im Zeitraum der Geburt begleiten.

Die Reaktion bedingt das Trauma

Wichtig zu verstehen ist: Ein Trauma definiert sich nicht über das Ereignis selbst, sondern darüber, wie Körper und Seele der Mutter darauf reagieren. Dies wiederum hängt von den Rahmenbedingungen und Ressourcen der Mutter ab. Ist ihr System überfordert oder kann sie damit umgehen?

Für uns als Fachpersonen bedeutet dies: Wir haben nur auf einen gewissen Teil der Dinge, die eine Mutter als traumatisierend wahrnimmt, Einfluss; und auf einen anderen Teil eben leider nicht.

Gerade deshalb beginnt die traumasensible Geburtsbegleitung im Idealfall bereits beim ersten Kontakt – lange vor der eigentlichen Geburt. Und je besser du die individuellen Voraussetzungen der von dir begleiteten Mutter kennengelernt hast, desto gezielter kannst du sie unterstützen.

Zusammenspiel von vorgeburtlichen Risiken und geburtsbezogenen Ereignissen

Die Grafik zeigt, wie vorgeburtliche Risiken und geburtsbezogene Ereignisse zusammenwirken. Ca. 20 % der Gebärenden erleben eine Traumaexposition, also ein außergewöhnlich belastendes Ereignis während der Geburt. Etwa die Hälfte von ihnen reagiert darauf mit einer traumatogenen Stressreaktion – eine normale Reaktion von Körper und Seele auf das Erlebte. Doch wann wird aus dieser Stressreaktion tatsächlich eine PTBS?

Von der Stressreaktion zur posttraumatischen Belastungsstörung

Die entscheidenden Faktoren sind:

  • Verarbeitungskapazitäten: Wie gut kann die Mutter das Erlebte verarbeiten?
  • Risikofaktoren: Welche Belastungen bringt sie bereits mit?
  • Belastungen im Wochenbett: Auch hier spielt die Unterstützung eine wesentliche Rolle.

Ob sich eine PTBS entwickelt, hängt also von der Schwere und Anzahl der Ereignisse ab, aber auch davon, wie Hebammen und Fachpersonen die Mutter im Wochenbett begleiten. Die Symptome einer PTBS laut ICD-11 umfassen:

  • Erhöhte Anspannung und Erregbarkeit,
  • Vermeidungsverhalten,
  • Wiedererleben des Traumas.

Dabei ist vor allem ein Faktor wichtig, der leider viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommt:

Tokophobie – Wenn Frauen sich vor der Geburt fürchten

Es gibt Frauen, die eine regelrechte Angst vor der Geburt entwickeln – medizinisch sprechen wir von einer Tokophobie oder Geburtsangst. Betroffene erleben bereits die Vorstellung von Wehen oder der Geburt als extrem beängstigend.

Foto von Markus Winkler

In der Praxis unterscheiden wir zwei Formen:

Die primäre Tokophobie betrifft Frauen, die noch nie geboren haben. Häufig entstehen diese Ängste durch negative Geburtsberichte aus dem Umfeld oder dramatische Darstellungen in den Medien. Auch frühere Erfahrungen von Kontrollverlust oder traumatische Erlebnisse können eine wichtige Rolle spielen.

Die sekundäre Tokophobie entwickelt sich nach einer als übergriffig oder gewaltvoll erlebten Geburt. Eine spannende norwegische Studie zeigt hier etwas Überraschendes: Nicht die medizinischen Komplikationen sind entscheidend, sondern wie die Frau die Geburt emotional erlebt hat. Nach einer subjektiv negativen Geburtserfahrung entwickelten 26,5% der Frauen eine Geburtsangst – bei medizinischen Komplikationen waren es nur 9,9%.

Was bedeutet das für die Praxis?

Ein wichtiger Risikofaktor für ein traumatisches Geburtserleben ist die Geburtsangst, von der etwa 6-10% aller Frauen betroffen sind.

Exkurs: Minikurs Grundlagen „psychische Erkrankungen um die Geburt“

(bitte zum Lesen aufklappen)

Ängste zählen zu den peripartalen psychischen Störungen. Wer sich weiterbilden möchte im Bereich „Psychischer Erkrankungen der Mutter im Zeitraum um die Geburt“ findet das gesammelte Grundlagenwissen dazu im gleichnamigen 2h Online MinikursKlick hier für alle Infos zum Kurs.

Die gute Nachricht: Fachpersonen können gezielt unterstützen, wenn eine werdende Mutter unter Geburtsangst leidet! Eine individuelle Geburtsvorbereitung, die Sicherheit vermittelt und praktische Skills an die Hand gibt, kann nicht nur die Angst reduzieren. Sie beeinflusst auch positiv den Geburtsverlauf und senkt das Risiko für eine posttraumatische Belastungsstörung.

Besonders spannend: Wenn Hebammen psychoedukativ mit den Frauen arbeiten, sinken sogar die Kaiserschnittraten. Das zeigt: Geburtsangst gehört zu den Risikofaktoren, die wir durch gezielte Begleitung positiv beeinflussen können.


Kostenlose Veranstaltung am 13. März 2025: Tabuthemen zum Frauentag


Sekundärtraumatisierung: Wenn Fachpersonen unter die Räder kommen

Sekundärtraumatisierung: Wenn Fachpersonen unter die Räder kommen

Nicht nur Mütter, auch begleitende Fachpersonen können durch Geburten psychisch belastet werden. Als Hebamme, Ärztin oder Geburtsbegleiter*in erlebst du intensiv mit, wenn eine Geburt traumatisch verläuft. Dabei ist es wichtig zu verstehen: Auch für Fachpersonen zählt nicht allein das physische Ergebnis – gesunde Mutter, gesundes Kind. Vielmehr kann das Gefühl, keine wirklich sinnvolle, einfühlsame Begleitung ermöglicht zu haben, tiefe Spuren hinterlassen. Durch dieses Miterleben und die empathische Verbindung können ähnliche Stressreaktionen wie bei den direkt Betroffenen entstehen – wir sprechen dann von einer Sekundärtraumatisierung. Die Symptome ähneln dabei oft denen einer primären Traumatisierung: emotionale Erschöpfung, Schlafstörungen, anhaltende Gedanken an bestimmte Geburtserlebnisse oder sogar das Vermeiden bestimmter geburtshilflicher Situationen. Besonders belastend ist es, wenn Fachpersonen trotz bester medizinischer Versorgung spüren, dass sie der Gebärenden nicht die emotionale Sicherheit und Präsenz bieten konnten, die sie gebraucht hätte. In einem System, das kaum Zeit für Nachbesprechungen und Selbstfürsorge lässt, können sich diese Belastungen summieren. Für die Qualität der Geburtshilfe ist es daher entscheidend, auch die psychische Gesundheit der Begleiter*innen im Blick zu behalten – durch Supervision, kollegiale Beratung und institutionelle Unterstützungssysteme. Denn nur wer selbst emotional stabil ist und das Gefühl hat, bedeutsame Geburtsbegleitung leisten zu können, kann Gebärenden die nötige Sicherheit vermitteln.

Die systemische Komponente

Die Erkenntnis, dass „normale“ Geburten traumatisierend sein können, stellt das Geburtshilfe-System vor eine wichtige Aufgabe. Fachpersonen können durch traumasensible Begleitung, frühzeitige Erkennung von Risikofaktoren und individuelle Geburtsvorbereitung einen entscheidenden positiven Einfluss haben. Besonders bei der Tokophobie zeigen Studien, dass psychoedukative Arbeit nicht nur Ängste reduziert, sondern sogar Kaiserschnittraten senken kann.

Doch die Realität sieht anders aus: Überlastete Kreißsäle, Personalmangel und ein System, das auf Effizienz statt Beziehungsaufbau setzt, erschweren genau diese präventive Arbeit. Hebammen und Geburtsbegleiter*innen haben oft nicht die Zeit und Ressourcen, die sie bräuchten, um jede Frau individuell kennenzulernen und deren spezifische Bedürfnisse zu berücksichtigen.

Was wir brauchen, ist ein Umdenken auf struktureller Ebene: mehr Fachpersonal, Zeit für Beziehungsarbeit und die Anerkennung, dass Geburtshilfe mehr ist als medizinische Versorgung. Es ist die Begleitung eines potenziell lebensverändernden Ereignisses, bei dem die psychische Gesundheit genauso wichtig ist wie die körperliche – und das gilt auch für das begleitende Fachpersonal!

Solange das System jedoch auf Durchsatz und Kosteneffizienz ausgerichtet bleibt, stehen selbst die engagiertesten Fachpersonen vor dem Dilemma, nicht allen Frauen die Betreuung bieten zu können, die sie verdienen. Die gute Nachricht ist: Wir wissen, was helfen würde. Die Herausforderung besteht darin, diese Erkenntnisse in die Praxis umzusetzen – trotz und gegen die systemischen Hürden.

Dr. med. Ute Taschner. Foto: Sabine Rukatukl Freiburg

Dr. Ute Taschner

Dr. Ute Taschner ist Ärztin und Mutter von vier Kindern. Die ersten kamen per Kaiserschnitt zur Welt — danach verschrieb sie sich dem Thema natürliche Geburt nach Kaiserschnitt. Außerdem setzt sie sich für traumasensible Geburtsvorbereitung ein.

Wöchtenliche Updates zu neuen Beiträgen

Katharina Tolle

Wie schön, dass du hier bist! Ich bin Katharina und betreibe seit Januar 2018 diesen Blog zu den Themen Geburtskultur, selbstbestimmte Geburten, Geburtsvorbereitung und Feminismus.

Meine Leidenschaft ist das Aufschreiben von Geburtsgeschichten, denn ich bin davon überzeugt, dass jede Geschichte wertvoll ist. Ich helfe Familien dabei, ihre Geschichten zu verewigen.

Außerdem setze ich mich für eine selbstbestimmte und frauen*-zentrierte Geburtskultur ein. Wenn du Kontakt zu mir aufnehmen möchtest, schreib mir gern!

Foto von Katharina

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