Letztes Jahr habe ich ein Interview mit Nele Junghanns veröffentlicht. Sie erzählte darin von der Geburtshausgeburt ihrer Tochter. Weil Lenchen bei der Geburt nicht atmete, wurde sie ins Krankenhaus verlegt. Lenchen erlitt einen Sauerstoffmangel und hat eine körperliche Behinderung.
In diesem Gastbeitrag beschreibt Lenchens Mutter Nele, wie sie es durch die schwierige Zeit nach der Geburt geschafft hat. Ich veröffentliche ihren Beitrag, weil ich ihre Überzeugung teile: Selbst in solch schwierigen Phasen ist es möglich, positiv zu denken. Wenn du dich gerade auf die Geburt vorbereitest und du Angst hast, dass etwas schief laufen könnte, lies diesen Beitrag. Er wird dir Mut machen. Er wird dir helfen, sich einzulassen auf das Wunder des Lebens. Lies, was Nele zu sagen hat über Loslassen, Hoffnung, Akzeptanz, Dankbarkeit, Austausch, Glauben und Glück.
Der Weg zu mehr Resilienz
Ich sitze im Arztsprechzimmer der Neonatal- und Kinderintensiv-Station, auf der seit zwei Tagen mein Neugeborenes liegt, und versuche, gegen den fetten Kloß in meinem Hals anzuschlucken. Irgendwo in mir regt sich die vergebliche Hoffnung, dass das doch alles nur ein einziger Alptraum ist, aus dem ich gleich aufwache. Aber geschlafen habe ich schon länger nicht mehr richtig.
Die letzten zwei Nächte habe ich auf der Wöchnerinnenstation verbracht, obwohl ich mich zu Hause wesentlich besser von der Geburt hätte erholen können. Aber um mich geht es überhaupt nicht mehr, und ich wollte wenigstens in der Nähe meines Kindes sein, das ich bisher erst einen winzigen Moment und dick eingewickelt im Arm halten und ansonsten nur durch die Öffnungen des Glaskastens berühren durfte, in dem es liegt, apathisch und resigniert, als hätte es von seinem Leben jetzt schon genug.
Alle paar Stunden pumpe ich Milch ab. Allmählich kommt eine nennenswerte Menge zusammen. Aber an Stillen ist überhaupt nicht zu denken, nicht mal ein Fläschchen kann ich meinem Kind geben, denn es hat keinen Saugreflex und schluckt nicht. An seinem Bettchen hängt ein Zettel, auf dem fett mit Textmarker unterlegt „Keine Trinkversuche!!“ steht.
Vor zwei Tagen kam unsere Tochter nach einer Traumschwangerschaft termingerecht bei einer Wassergeburt im Geburtshaus zur Welt. Es war alles wunderschön, bis zu dem Moment, als sie leblos und grau ins Wasser glitt und wir feststellten, dass sie nicht atmete, geschweige denn schrie. (Richtig geschrien hat sie auch später nie.)
Jetzt sitze ich hier, und der Oberarzt hat mir gerade klar gemacht, dass dieser Sauerstoffmangel bei der Geburt mit großer Wahrscheinlichkeit nicht ohne Folgen geblieben ist und mein Kind schwere Gehirnschäden davongetragen haben könnte. Ich müsse mich darauf einstellen, dass sie schwerst behindert sein würde. Ich sah ein Kind vor mir, das nur daliegt, nichts kann und nichts mitkriegt. Ihr Leben zu Ende, bevor es überhaupt begonnen hatte. Das Schlimmste, was einem Menschen überhaupt passieren kann. Das dachte ich damals.
Mein Mann war bei diesem Gespräch nicht dabei. Ich weiß noch, dass ich damals dachte: „Diese Nachricht verkraftet er nicht! Er hat sich so auf unser Kind gefreut…“
Wie sich herausstellte, wusste er es schon. Offenbar war ich diejenige, die man mit dieser Wahrheit noch verschont hatte, oder ich hatte es in meinem schlafmangelbedingten Dämmerzustand erfolgreich verdrängt. Jedenfalls hat er es verkraftet, und ich auch.
Wie haben wir das geschafft?
Aufgeben war natürlich sowieso keine Option. Wir haben einfach immer weitergemacht, anfangs wie ferngesteuert, sind wir acht Wochen lang jeden Tag 50 Kilometer in diese Klinik gefahren, denn mehr als zwei Nächte konnte ich nicht dort bleiben.
Aber wir haben von Anfang an an unser Kind geglaubt, daran, dass es, entgegen der Meinung der Ärzte, doch zumindest was im Kopf hat, womit wir Recht behalten sollten.
Heute ist sie vier Jahre alt und körperlich stark eingeschränkt. Sie kann sich nicht aus eigener Kraft aufrecht halten und infolgedessen nicht ohne Unterstützung sitzen, stehen oder gar laufen. Sie kann ihre Hände kaum steuern, weshalb sie nicht gezielt greifen und quasi nichts selbständig machen kann. Sie kann nicht schlucken und wird immer noch über eine Magensonde ernährt, und sie kann nicht sprechen, was auch ein rein motorisches Problem ist, denn sie versteht alles und ist ein sehr aufgewecktes, lebensfrohes Mädchen.
Sie hat seit einem halben Jahr einen Sprachcomputer, den sie mit den Augen bedienen und mit dem sie schon Zweiwortsätze wie „Kleidung an“ oder „Licht aus“ sagen kann. Für diese Technologie bin ich so dankbar, denn sie ist nicht nur die einzige Möglichkeit für mein Kind, sich zu verständigen, sondern wirkt auch noch ungemein zukunftsweisend. Wenn sie das beherrscht, steht sie Steven Hawkings quasi in nichts mehr nach!
Das ist einer der Pfeiler, auf die sich die Resilienz unserer Familie stützt: unser Humor, der auch vor scheinbaren Tabus nicht haltmacht.
Trotz ihrer starken körperlichen Beeinträchtigungen ist sie weit entfernt von dem Schreckensszenario, das ich bei jenem ersten Gespräch mit dem Oberarzt vor Augen hatte. Wir sind eine glückliche kleine Familie — vielleicht mehr als andere.
Aber das kam natürlich nicht von heute auf morgen. Von jener ersten Kenntnis an begann für uns Eltern ein langer Prozess der Verarbeitung, bei dem wir Eltern verschiedene Phasen durchliefen.
Loslassen
Die ersten Tage nach dieser zutiefst erschütternden Nachricht waren für mich geprägt vom Abschiednehmen von allen möglichen Vorstellungen, Erwartungen und Träumen.
Ich musste mich nicht nur von dem Wunsch verabschieden, mein Kind nach der Geburt auf den Bauch gelegt zu bekommen, ihm jemals die Brust oder auch nur ein Fläschchen geben zu können, sondern auch davon, dass es einmal ohne Hilfe würde laufen können, angeblich auch davon, dass es je eine Schule besuchen würde.
Es war eine lange Zeit, in der mir immer und immer wieder schmerzhaft bewusst wurde: das wird sie auch nie können, jenes werden wir mit ihr nie machen können.
Nicht jedes Kind wird einmal Abitur machen, studieren oder irgendein besonderes Talent entwickeln und große Erfolge erzielen, und das ist auch kein Weltuntergang. Aber träumen nicht alle Eltern ein bisschen, was die Zukunft ihres Neugeborenen angeht? Der Unterschied ist, dass wir uns von so ziemlich allen Träumen auf einmal verabschieden mussten. Andere Eltern müssen das nur teilweise und nur nach und nach.
Damals war ich weit davon entfernt, irgendetwas bewusst zu machen, aber offenbar wendete ich ganz instinktiv die Strategie an, mit der ich bisher durch jede Krise in meinem Leben gekommen bin: Ich trauere dem, was ich hinter mir lassen muss, nicht lange hinterher, sondern schließe, nach einem schmerzhaften Abschied, damit ab.
Auf Gedanken der Art, „Was wäre gewesen, wenn…“, lasse ich mich kaum ein. Genauso wenig wie auf Fragen, was in fernerer Zukunft einmal sein wird. Denn beides führt zu nichts. Das scheint ein Schutzmechanismus zu sein, den ich mir irgendwann mal zugelegt habe, ohne dass es eine bewusste Entscheidung war, vielleicht gerade weil ich ein sehr sensibler und emotionaler Mensch bin.
Schließt sich eine Tür in meinem Leben, finde ich meist ganz schnell eine oder mehrere, die sich öffnen. Und anstatt auf die geschlossenen Türen hinter mir zu starren, wende ich mich denen zu, die sich vielleicht neu geöffnet haben, oder die ich erst jetzt wahrnehme.
Und meistens fallen mir sogar negative Dinge hinter der verschlossenen Tür ein, mit denen ich mich jetzt nicht mehr herumschlagen muss.
Das ist natürlich leichter gesagt als getan, wenn gerade die Möglichkeit eines gesunden Kindes ohne körperliche Einschränkungen für immer in unerreichbare Ferne gerückt ist. Aber tatsächlich fallen mir sogar hier immer mal wieder Sachen ein, die meinem Kind erspart bleiben, etwa der Leistungsdruck, unter dem viele Kinder und Jugendliche heute stehen. Die Tatsache, dass unter Abitur eigentlich gar nichts mehr geht, und das noch in möglichst kurzer Zeit. Mittlerweile halte ich es gar nicht mal mehr für unmöglich, dass unsere Tochter einmal auf eine „normale“ Schule geht und sogar Abitur macht, aber niemand erwartet es von ihr.
Oft habe ich mich über meine Erziehung zu Bescheidenheit und Verzicht geärgert, denn viel zu häufig habe ich in meinem Leben auf Dinge verzichtet und mich zufriedengegeben, wo ich um meine Rechte, Ansprüche oder um Gehör hätte kämpfen sollen.
Aber es gibt Situationen, in denen es hilft, wenn man Verzicht gelernt hat, nämlich die, an denen man nichts ändern kann, denn sonst kann es sehr schmerzhaft werden, wenn einen zum ersten Mal im Leben ein schweres und unabänderliches Schicksal ereilt.
Viele kennen vermutlich das Gelassenheitsgebet von Reinhold Niebuhr:
„Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann,
den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann,
und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“
Hoffnung
Ärzte sind Eltern beim Loslassen ihrer Träume leider oft auf sehr unsanfte Art behilflich, indem sie gnadenlos den Blick auf die Defizite des Kindes lenken und einem gern jede Hoffnung rauben, dass es vielleicht doch nicht so schlimm wird.
Dabei finde ich Hoffnung so wichtig, um überhaupt einen Sinn darin zu sehen, weiterzumachen. Warum sollten wir mit unserem Kind sechsmal die Woche zu Physio, Logo, Ergo und Frühförderung gehen, Therapieprogramme mit ihm durchziehen und üben, üben, üben, wenn wir gar keine Hoffnung hätten, dass sich etwas bessert?
Dann wieder gibt es Menschen, die ihre Hoffnungen etwas zu hoch stecken. Wir werden heute noch manchmal gefragt, ob unsere Tochter denn irgendwann laufen können wird. Die Menschen, die das fragen, meinen tatsächlich: ohne Hilfe, denn natürlich kann sie jetzt schon mit einem Speziallaufrad oder einem Gehgerät „laufen“.
Ich weiß nie, was ich auf solche Fragen antworten soll. Irrwitzigerweise habe ich das Gefühl, diese Außenstehenden trösten zu müssen und rede um den heißen Brei herum, anstatt einfach zu sagen: nein, wird sie nicht.
Diese übertriebenen Hoffnungen ziehen einen auch oft runter. In den ersten ein, zwei Jahren, als wir selbst noch die vage Hoffnung hatten, dass sich Lenchens Entwicklung einfach nur etwas verzögert, kamen solche Fragen noch viel öfter.
Wenn wir stolz erzählten, dass sie tolle Fortschritte mache, meinten wir meistens Dinge wie, dass sie sich jetzt allein vom Bauch auf den Rücken dreht, den Kopf minimal besser hält oder auch, dass sie kognitiv die nächste Stufe erklommen hat, was zu unserem Glück wirklich stetig der Fall war und ist. Wenn dann Fragen kamen wie „Kann sie denn jetzt krabbeln?“, auf die man nur eine „enttäuschende“ Antwort geben konnte, waren wir ganz schnell in unserer Euphorie ausgebremst.
Akzeptanz
Eine Bekannte, die selbst einen Sohn mit einer Behinderung hat, sagte einmal zu mir, die größte Behinderung seien oft die Eltern, die dem Kind keinerlei Eigenständigkeit zugestehen. Ich glaube, da ist was dran.
Was mir bei manchen Familien auffällt, ist, dass der Fokus sehr auf der Behinderung des Kindes, und vor allem dem „Dagegenwirken“ liegt. Es wird geübt, geübt und nochmals geübt.
Wir üben auch mit unserer Tochter und nehmen viele Angebote in Anspruch, wo Profis mit ihr üben. Sie hat viele Baustellen, und würden wir alles machen, was wir EIGENTLICH müssten, kämen wir zu nichts anderem mehr. Aber unser Kind darf auch einfach mal Kind sein, wie jede andere Vierjährige auch. Wir unternehmen viel, sind viel unterwegs, und unsere Tochter ist gern unter Menschen, beobachtet alles und hat Spaß dabei. Sie liebt Körpererfahrungen wie schwimmen, rutschen, toben und auf einer Wiese herumkullern.
Wie uns der Oberarzt damals auch erklärt hat, trägt jede neue Erfahrung nicht zuletzt dazu bei, dass im Gehirn Synapsen wachsen und sich Gehirnzellen regenerieren oder andere die Funktion von zerstörten Zellen übernehmen. Aber was wir noch viel wichtiger finden: es trägt ungemein zur Lebensfreude bei! Und die ist für uns mindestens genauso wichtig wie den Kopf halten oder einen Fuß vor den anderen setzen zu können. Warum soll ich laufen lernen, wenn ich nicht weiß, wohin? Oder sprechen, wenn ich nicht weiß, worüber?
Im Prinzip haben wir uns damit abgefunden, dass sich am körperlichen Status quo unserer Tochter nicht allzu Bahnbrechendes mehr ändern wird. Das soll aber nicht heißen, dass wir sie aufgegeben hätten, sondern ganz im Gegenteil. Sie ist wie sie ist. Und so darf sie jetzt Kind sein und Freude am Leben haben, und nicht erst, wenn wir sie so lange beturnt und beübt haben, bis sie irgendeinem Optimum entspricht, das sie niemals erreichen kann.
Aber auch das mit der Akzeptanz kam keinesfalls über Nacht. Es hat lange gedauert, über ein Jahr, bis wir in Zusammenhang mit ihr das Wort „Behinderung“ in den Mund genommen haben.
Im ersten Jahr war sie „entwicklungsverzögert“, hatte „Probleme“ oder ihre „Baustellen“, und immer schwang die Hoffnung mit, dass sie doch noch alles — oder zumindest vieles — aufholen würde.
Wir wollten noch nicht wahrhaben, dass unser Kind behindert war und bleiben würde. Wir freuen uns heute noch über jeden kleinen Fortschritt, aber er bedeutet eben nur einen kleinen Fortschritt, und nicht einen Schritt zur nicht-Behinderung.
Dankbarkeit
Einer der größten Fehler, die man in Bezug auf das eigene Kind — oder auch auf sich selbst – machen kann, ist vergleichen. In den ersten ein, zwei Jahren ist mir das immer wieder ganz unbewusst passiert, und es hat mich jedes Mal verdammt runtergezogen.
Ich konnte anderen Kindern eigentlich gar nicht mehr unbeschwert begegnen, weil gefühlt jedes mehr konnte als meines. Ich fürchtete schon, als verbitterte Kinderhasserin zu enden, für die man selbst als Kind so wenig Verständnis hatte. Am allerschlimmsten war es im ersten halben Jahr, als meine Tochter noch nicht einmal lächelte und wir natürlich nicht wussten, ob sie es je können würde. Schon jedes Lächeln eines anderen Kindes war ein Stich in mein Herz. Fröhliche Familien, herumtobende, rufende Kinder: ich konnte sie nicht ertragen.
Vergleiche, bei denen mein Kind besser abschnitt, erlebte ich hin und wieder bei Klinikaufenthalten, aber in ganz geballter Ladung, als meine Tochter zweieinhalb war und wir zum ersten Mal zu einem Therapieblock in einer Rehaklinik in Bayern waren. Hier haben fast alle Kinder irgendeine Gehirnschädigung oder sonstige Behinderung, manchmal auch erst durch einen dummen Unfall oder eine Erkrankung im Lauf ihres Lebens erworben.
Und es gibt eine Intensivstation, auf der die ganz schweren Fälle liegen. Kinder, die rund um die Uhr beatmet werden müssen, die nur liegen, sich noch weniger bewegen können als unseres, die geistig quasi nicht am Leben teilnehmen. Selten sieht man sie draußen auf dem Klinikgelände, und wenn dann mit ganz großem Gepäck: Liegerollstuhl, Beatmungsgerät, Nahrungspumpe und allem möglichen anderen Pflegekram.
Bei diesem Aufenthalt lernte ich wirklich dankbar zu sein für alles, was meine Tochter kann und erleben darf und dass wir trotz allem so viel mit ihr unternehmen können.
Andere würden es vielleicht auch in unserer Situation vorziehen, zu Hause zu bleiben und kein Risiko einzugehen, aber das Leben birgt immer ein gewisses Risiko, und wir glauben, dass unsere Tochter sich nicht zuletzt deswegen geistig so gut entwickelt, weil sie so viele schöne und spannende Dinge erleben darf.
Austausch
Wenn es um das Thema Resilienz geht, ist es besonders schwer, Ratschläge zu geben, die dem anderen wirklich nützen. Letztendlich muss jeder für sich herausfinden, was ihm hilft, was ihn stark und glücklich macht und welcher Weg der richtige für ihn ist.
Was ich Eltern eines besonderen Kindes, für die die Situation vielleicht noch neu ist, aber auf jeden Fall raten kann, ist, sich mit anderen Betroffenen auszutauschen.
Uns hat diese Möglichkeit am Anfang gefehlt. Keiner hat uns gesagt, wo wir Leidensgenossen finden. Eine Schwester wies uns auf „rehakids“ hin, ein sehr großes Internetforum, wo mir am Anfang zwar viele Fragen beantwortet wurden, aber mir persönlich war dieses Forum einfach zu groß, zu unübersichtlich und dadurch auch zu unpersönlich.
Nach zwei Jahren gründete ich eine Selbsthilfegruppe für Eltern besonderer Kinder, und auch wenn Treffen nur sporadisch und pandemiebedingt im Moment gar nicht mehr stattfinden, stehen wir ständig im Austausch über WhatsApp, und es gibt kaum eine Frage, auf die nicht irgendwer mit einer Antwort oder einer Erfahrung dienen kann.
Und schließlich rief ich vor einem Jahr meinen Blog Anders Glücklich ins Leben, in dem ich aus der Perspektive meiner Tochter aus ihrem Alltag erzähle. Damit möchte ich zum einen natürlich einen Beitrag zur Inklusion leisten, nicht zuletzt im Interesse meiner Tochter, aber zum anderen auch Eltern auffangen, die in der Situation sind, wie wir damals, und ihnen mehr als nur einen Strohhalm geben, an den sie sich klammern können.
Der intensivste Austausch mit Eltern von Kindern, die ähnliche Baustellen wie meines haben, kam jedoch bisher während der Therapieblöcke in der Rehaklinik zustande. So anstrengend diese Aufenthalte für mich als Mama sind, ist das ein großer Vorteil, denn man erlebt die anderen Kinder und deren Alltag live und über einen längeren Zeitraum und bekommt wahnsinnig viel Input und Anregungen für sich und das eigene Kind.
Sehr positiv überrascht war ich auch von Instagram. Ich meldete mich eigentlich nur halb motiviert dort an, weil ich für meinen Blog Visitenkarten drucken lassen und meine künftige Instagram-Adresse halt mit draufschreiben wollte, war aber überzeugt, dass diese Hochglanz-Selbstoptimierungs-Plattform keinen Raum für Menschen mit Behinderungen bietet. Weit gefehlt! Es gibt dort jede Menge Accounts über Kinder — und auch von Erwachsenen — mit Behinderungen und auch so viele positive Erfahrungsberichte, dass ich fast ein bisschen enttäuscht war, dass mein Blog wohl doch nicht so einzigartig ist. Aber da es der einzige mit von mir gemalten Bildern ist, ist er es natürlich doch 😉
Einerseits war ich schockiert, dass so viele Menschen ihr behindertes Kind in (fast) jeder Lebenslage ablichten und filmen und das in aller Öffentlichkeit zeigen, aber natürlich ist es wichtig, um sie sichtbar zu machen, um aufzuklären und damit andere Eltern sehen: wir sind nicht allein, da draußen gibt es viele solche Kinder und Eltern mit den gleichen Problemen und Sorgen.
Glauben
Im ersten Lebensjahr meiner Tochter war ich besonders empfänglich für den Glauben — an was auch immer. Nie zuvor und nie danach habe ich so viel gebetet, oder überhaupt gebetet, als wollte ich mich an jede noch so kleine Hoffnung klammern. Schaden konnte es schließlich nicht.
Mein „Glaube“ ist eher eine Art Urvertrauen, dass es irgendeine höhere Instanz gibt, die — sehr langfristig betrachtet — für so was wie Gerechtigkeit sorgt. Daran, dass alles irgendwie einen Sinn ergibt, auch wenn wir ihn nicht immer gleich begreifen, und er sich vielleicht auch nicht innerhalb unseres kleinen, unbedeutenden Lebens erschließt.
Einen Sinn darin zu sehen, dass das Leben eines unschuldigen Kindes bereits vorbei ist, ehe es überhaupt zu leben begonnen hat (das war natürlich nur meine damalige Sicht), fiel mir verdammt schwer. Das war der Hauptgrund, warum ich anfing zu beten, um eine Antwort auf dieses „Warum“ zu bekommen. Warum mein Kind? Ist das eine Strafe, und wenn ja, wofür?
Und bekam ich eine Antwort? Wenn ich jetzt darüber nachdenke: ja. Weil ich etwas begriffen habe, nämlich, dass weder das Leben meiner Tochter noch das unsere vorbei ist. Es gibt neben der vollen Funktionsfähigkeit des Körpers noch so viele andere Dinge, die einen Menschen und ein erfülltes Leben ausmachen. Und mit ihrer unbändigen Lebensfreude zeigt unsere Tochter uns das jeden Tag. Ich kenne kein fröhlicheres und genügsameres Kind.
Ich habe wieder zu meinem Glauben gefunden, dass alles irgendwie gut wird. Aber vor allem glaube ich an meine Tochter. Sie wird ihren Weg machen, denn sie ist wahnsinnig ehrgeizig, eine kleine Kämpferin mit starkem Willen.
Glück
Es gibt keinen Anspruch darauf, dass im Leben immer alles glattläuft. Das wäre auch gar nicht erstrebenswert, weil es furchtbar langweilig wäre. Oder, wie der Aphoristiker Peter Hohl es ausdrückt: „Glück ist nicht die Abwesenheit von Schwierigkeiten, sondern deren Bewältigung. Die Abwesenheit von Schwierigkeiten nennt man Langeweile.“
Glück ist vor allem kein Dauerzustand. Aber wenn man einmal von seiner Erwartungshaltung losgelassen hat, den Status quo akzeptiert und gelernt hat, für kleine Erfolge dankbar zu sein und eine gewisse Hoffnung nicht aufzugeben und daran glaubt, dass alles irgendwie gut wird, dann wird man auch mehr und mehr Glücksmomente erleben.
Bei uns überwiegen die Glücksmomente die Enttäuschungen bei weitem, und das ist sicher zum Großteil einfach eine Einstellungssache.
Manchmal weiß ich nicht, ob meine Tochter so stark und positiv eingestellt ist, weil wir als ihre Eltern es ihr vormachen — oder ob es vielleicht auch umgekehrt ist.
Schon ganz am Anfang, in der schlimmsten Phase, ging es mir in der Gegenwart meiner Tochter eigentlich immer gut und ich war zuversichtlich. Die Verzweiflung, Trauer, Wut, Neid und andere negative Gefühle übermannten mich meistens, wenn ich allein irgendwo war, zum Beispiel beim Einkaufen.
Psychisch geht es mir heute besser als vor der Geburt meiner Tochter. Vielleicht hat es ja doch einen tieferen Sinn, dass dieses Kind, so wie es ist, zu uns geschickt wurde.
Über Nele Junghanns
Nele ist Mutter von Lenchen. Lenchen kam 2016 mit einer schweren körperlichen Behinderung zur Welt, die Nele zunächt nicht wahrhaben wollte. Mittlerweile weiß sie: Sie, Lenchen und ihre Familie sind glücklich — nur eben anders glücklich. Sie gründete 2020 deshalb ihren Blog Anders Glücklich, auf dem sie über den Alltag mit Lenchen und über den Grundpfeiler ihres Glücks schreibt: Resilienz. Dazu hat sie nun auch ein Kinderbuch geschrieben: Auf dem Spielplatz. Du kannst es hier bestellen (Partnerlink zu Amazon).
1 Gedanke zu „Wie wir anders glücklich wurden – Gastbeitrag von Nele Junghanns“