Wenn Freie Geburten nicht mehr frei sind

Freie Geburten müssen Interventionen zulassen, wenn sie wirklich frei sein wollen.

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Um denjenigen gerecht zu werden, die sich mit den Worten „Frau“ oder „Mutter“ nicht identifizieren können, obwohl in ihrer Geburtsurkunde „weiblich“ steht, habe ich mich dazu entschlossen, in meinen eigenen Beiträgen „Mutter“ und „Frau“ jeweils mit dem Inklusionssternchen zu versehen. Ihr werdet also Frau* oder Mutter* lesen (falls der Text von mir kommt und nicht von anderen Menschen). Geschlechtergerechte und inklusive Sprache ist mir ein Herzensthema, allerdings ist (meine persönliche und die gesellschaftliche) Entwicklung dazu noch lange nicht abgeschlossen. Mal sehen, wie ich es in Zukunft angehe. Mehr zum Thema liest du unter anderem hier: Sollte ein Geburtsblog geschlechtsneutral sein, Gebären wie eine Feministin und Sex, Gender, Geburten und die deutsche Sprache.

Alleingeburten als Entscheidung der Mutter*

Alleingeburten. Freie Geburten. Frei von allem, was es an Regeln in der medizinischen Welt gibt. Hauptsache: Die Mutter* traut ihrem Gefühl, ihrer Intuition. Und dann geht alles gut.

Für manch eine Frau* ist das genau das, was sie will.

Meine Haltung ist klar: Wenn es die Frau* ist, die sich bewusst dafür entscheidet, dann hat niemand anderes reinzureden. Hier auf dem Blog und auch in meinem Manifest plädiere ich genau dafür: Die Gebärende entscheidet, wer bei der Geburt noch dabei ist und welche Unterstützung sie von wem annimmt.

Leider ist das nicht das Ende der Geschichte.

Manifest für eine selbstbestimmte Geburtskultur Cover

Ein stummer Schrei nach Hilfe

Über eine Freundin wurde ich letztens auf ein Video auf Instagram aufmerksam. Es stammt aus dem englischen Sprachraum und zeigt eine frischgebackene Mutter* im häuslichen Umfeld, wie sie umgehend nach der Geburt ihren Säugling im Arm hält.

Das Baby ist leblos, der Kopf hängt herunter.

Die Mutter* reibt ihm den Rücken ab, dennoch läuft der Kopf des Babys blau an.

Ich verlinke das Video hier, rate dir aber, es dir nur anzuschauen, wenn du es aushalten kannst, einen leblosen Säugling zu sehen und eine Mutter, die aus meiner Sicht Panik hat, aber diese nicht zugeben will oder darf.

Zum Instagram-Reel

Falls du es lieber nicht anschauen möchtest, fasse ich es hier nochmal ausführlicher zusammen.

Beschreibung des Instagram-Videos

Wir sehen eine Szene umgehend nach der Geburt.

Die Mutter* kniet auf dem Boden, nimmt ihr lebloses Neugeborenes auf und schmiegt es an sich. Sie reibt dem Baby den Rücken, um den Kreislauf zu animieren, dies bleibt allerdings ohne sichtbaren Erfolg.

Sie begrüßt das Baby.

Dann dreht sie den immer noch leblosen Säugling so, dass sie die primären Geschlechtsteile sehen kann und kommentiert, sie habe geahnt, einen Jungen zur Welt zu bringen.

Der Kopf des Säuglings ist mittlerweile blau angelaufen.

Mehr zu sich selbst als zum Neugeborenen sagt sie dann:

Take your time.
I’m not worried.
I’m not worried at all.
I’m just absolutely not.

Quelle: Instragram

Dabei schaut sie eine Person hinter der Kamera an. Dieser Blick ging mir sehr zu Herzen, denn aus ihm spricht der dringende Wunsch, laut nach Hilfe zu rufen.

Doch sie ruft nicht nach Hilfe.

Sie kuschelt den Säugling weiter, der nach einiger Zeit anfängt, leise Grunzlaute von sich zu geben.

Nach gefühlten Ewigkeiten schließlich gibt das Neugeborene einen Schrei von sich, der geeignet ist, die Lungen des Babys mit Sauerstoff zu versorgen.

Die Mutter* stößt einen kurzen Dank aus und hat Tränen in den Augen.



Ich bin keine medizinische Fachfrau und will deshalb keine Aussage darüber treffen, ob ein Eingreifen sinnvoll gewesen wäre oder nicht.

Ich will auf etwas ganz anderes hinaus: Aus meiner Sicht leidet die Mutter* unter Panik. Sie versichert sich zwar selber immer wieder, dass sie keine Angst habe und das alles okay sei, aber der Blick, den sie einem Menschen jenseits der Kamera zuwirft, drückt Hilflosigkeit aus. Aus meiner Sicht wünscht sie sich Hilfe.

Aber sie sagt nicht, dass das Baby Hilfe braucht — von ihr oder einer Fachperson.

Foto von Engin Akyurt

Genau das ist es, was mich stört. Bei Freien Geburten soll es um die Intuition der Frau* gehen. Dieses Video vermittelt mir, dass die Frau* nicht auf ihre Intuition baut, sondern sich gefangen fühlt in dem Mantra, dass Alleingeburten gut ausgehen, dass das Baby niemals Hilfe braucht und dass jegliche Intervention zu viel wäre.

Wenn Alleingeburten ein Korsett werden

Vielleicht tue ich der Frau* im Video unrecht. Vielleicht interpretiere ich ihre Körpersprache falsch und sie strahlt einfach nur Erschöpfung, aber keine Unsicherheit oder gar Panik aus. Das ist durchaus möglich; immerhin habe ich nur die Außensicht.

Deshalb möchte ich mich in meiner Argumentation auch gar nicht nur auf dieses Video beziehen, sondern auf Alleingeburten insgesamt.

Alleingeburten stellen für Befürworter*innen einen Prozess der Ermächtigung dar:

„Wir brauchen das medizinische System nicht, um unsere Kinder zur Welt zu bringen. Wir können das besser alleine.

Wir glauben daran, dass Mutter Natur uns so geschaffen hat, dass wir keinerlei Hilfe bedürfen, solange wir nur ungestört sind und unsere Bedürfnisse erfüllt werden.“

Ganz ehrlich: Alleingeburten haben eine große Chance, gut auszugehen. Problematisch wird es allerdings, wenn die Annahmen dazu keine Ausnahmen mehr zulassen — und sich Frauen* deshalb in einem Korsett gefangen fühlen, aus dem sie keinen Ausweg mehr sehen.

Abgebrochene Alleingeburten lösen häufig viel Unmut aus: Beim medizinischen Personal, weil ja allein der Gedanke, das Kind allein zur Welt zu bringen, schon problematisch sei, und bei der Alleingeburts-Szene, weil es bestimmt auch zu Hause gutgegangen wäre.

In solch einem Umfeld fühlt sich unter Umständen eben nicht mehr jede Gebärende frei, wirklich ihrer Intuition zu vertrauen. Stattdessen greift ein umgekehrtes Korsett:

Statt „Wenn Sie nicht diese Vorsorgeuntersuchung machen lassen, könnte ihr Kind sterben“ heißt es dann „Geh auf keinen Fall zu dieser Vorsorgeuntersuchung, da gerätst du nur in eine Interventionsspirale.“ Diese Interventionsspirale gibt es, und sie ist durchaus problematisch. Doch wenn eine Schwangere das Bedürfnis hat, den Gesundheitszustand ihres Babys überprüfen zu lassen, ist das nach wie vor ihre Entscheidung, die eben nicht kritisiert werden sollte.

Kritik am Geburtssystem in Deutschland ist angebracht. Doch wenn die Entscheidung für eine Freie Geburt dazu führt, dass Gebärende nun umgekehrt nichts mehr in Anspruch nehmen können, ist der Grundgedanke der Freien Geburt verloren gegangen.

Denn dann geht es um die Erfüllung von Erwartungen — egal, ob selbst gesetzt oder von Außen herangetragen. Erwartungen beruhen aber immer auf den Erfahrungswerten der Vergangenheit (oder der Statistik) und nicht auf dem aktuellen Moment. Damit nehmen sie Gebärenden genau das, was sie eigentlich wollen: Die Freiheit, ihrer eigenen Intuition zu vertrauen.

Die Selbstermächtigung einer Alleingeburt geht in diesem Moment in Rauch auf, die Gebärende hat das Korsett der Geburtsmedizin gegen das Korsett der gut-ausgehenden-Alleingeburt getauscht.

Alleingeburten ohne Erwartungen

Wer eine Alleingeburt anstrebt, sollte sich darauf vorbereiten. Keine Frage.

Zur Vorbereitung gehört dann aber auch, sich klar zu machen: Während einer Alleingeburt können Momente auftauchen, in denen medizinische Hilfe gewünscht ist. Diese dann anzunehmen, ist kein Fail, kein Scheitern, keine Kapitulation vor dem System, sondern die logische Konsequenz aus der Ansicht:

So lange ich es allein schaffe, vermeide ich Interventionen. Wenn ich es nicht alleine schaffe, nehme ich die für mich passende Hilfe an.

Mir ist bewusst, dass das in der Praxis nicht immer so leicht umzusetzen ist. Doch ich wette, wer im Internet sucht, findet auch dazu passende Geschichten (eine darf ich gerade aufschreiben; Veröffentlichung dauert noch).

Damit Freie Geburten wirklich frei sind

Letztens habe ich irgendwo gelesen, dass eine Alleingeburts-Befürworterin sagte, aus ihrer Sicht hätte medizinisches Personal viel mehr Angst vor gelungenen Alleingeburten als vor Alleingeburten mit Problemen — weil diese gelungenen Alleingeburten eben zeigten, dass es das medizinische Personal nicht bräuchte.

Diese Entwicklung ist ausgesprochen problematisch.

Erinnern wir uns daran, was Alleingeburten eigentlich sein sollen: Eine Bastion der Selbstbestimmung, der Geburt ohne unnötige Eingriffe, mit den Gebärenden im Mittelpunkt des Geschehens.

Wenn wir gleichzeitig allerdings annehmen, dass nie auch nur eine einzige Alleingebärende gerne Hilfe in Anspruch nehmen würde, geht genau diese Selbstbestimmung verloren.

Selbstbestimmung und Vertrauen in Intuition heißt nämlich auch, Hilfe anzunehmen, wenn man alleine nicht weiterkommt.

Es geht mir um Selbstbestimmung, nicht um Interventionsfreiheit. Selbstbestimmung ist mehr als Interventionsfreiheit. Die Entscheidung für eine Intervention kann durchaus selbstbestimmt sein.

Wenn also Alleingeburten wirklich die Intuition der Mutter* in den Mittelpunkt stellen sollen, brauchen wir eine Alleingeburtsszene, die anerkennt: Sich Hilfe zu holen, wenn man sie sich wünscht, ist kein Versagen, sondern Intuition, die wir anerkennen und feiern sollten als feministische Wahl, für sich selbst und das Baby einzustehen.

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Katharina Tolle

Wie schön, dass du hier bist! Ich bin Katharina und betreibe seit Januar 2018 diesen Blog zu den Themen Geburtskultur, selbstbestimmte Geburten, Geburtsvorbereitung und Feminismus.

Meine Leidenschaft ist das Aufschreiben von Geburtsgeschichten, denn ich bin davon überzeugt, dass jede Geschichte wertvoll ist. Ich helfe Familien dabei, ihre Geschichten zu verewigen.

Außerdem setze ich mich für eine selbstbestimmte und frauen*-zentrierte Geburtskultur ein. Wenn du Kontakt zu mir aufnehmen möchtest, schreib mir gern!

Foto von Katharina

2 Gedanken zu „Wenn Freie Geburten nicht mehr frei sind“

  1. Ein Korsett? Nein!

    Innerhalb der Gesamtkohorte von 1084 geplanten Alleingeburten entschieden 64 Frauen unter der Geburt, ihr Vorhaben abzubrechen, eine Hebamme hinzuzuziehen bzw. ins Krankenhaus zu fahren.
    Von 1020 gemeisterten Alleingeburten entschieden sich nochmal 60 Mütter nach der Alleingeburt für eine Verlegung ins Krankenhaus. Und zwar überwiegend selbstbestimmt.

    Bei einer subpartalen Abbruchrate von 5,9 % und einer postpartalen/postnatalen Verlegungsrate von 5,88 % erkenne ich beim besten Willen KEIN Korsett in der Alleingeburtsszene. Jedenfalls nicht in der deutschsprachigen.

    124 deutschsprachige Mütter haben völlig korsettfrei richtig gute Entscheidungen für sich und ihr Kindchen getroffen. Nur weil diese Mamas keine Verlegungs-Reels auf Insta posten, sind sie trotzdem da. Gerne nachlesen in „Die Wahrheit über Alleingeburten“, Kapitel: 64 Gründe, eine Alleingeburt abzubrechen.

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    • Liebe Jobina,

      ich danke dir für deinen Kommentar! Mir geht es nicht darum, für oder gegen Verlegungen zu plädieren; mir geht es darum, dass wir uns angewöhnen sollten, diese Entscheidungen als solche zu akzeptieren. Das tun leider nicht alle Menschen, die Alleingeburten befürworten.

      Herzliche Grüße,
      Katharina

      Antworten

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