Wo ist die Zeit, fragte Andrea von Kinderalltag.
Meine Antwort auf die Frage ist vielschichtig. Einerseits haben wir sehr viel mehr Zeit, uns mit anderen Dingen zu beschäftigen als dem reinen Überleben. Und andererseits haben wir das Gefühl, dass uns die Zeit zwischen den Fingern entrinnt. Wir können sie nicht horten.
Wie also gehen wir mit Zeit in Bezug auf unsere Geburten um? Wofür opfern wir Zeit? Wie nutzen wir sie?
Inhalt
Viel Zeit für medizinische Vorsorge
Die meisten von uns wenden vergleichsweise viel Zeit für die medizinische Vorsorge auf. Wir fahren (bei einer „normalen“ Schwangerschaft) anfangs alle vier Wochen, später alle zwei Wochen und dann eventuell sogar täglich zum*zur Ärzt*in. Fahrzeiten und Wartezeiten in der Praxis sind dabei oft wesentlich länger, als die eigentliche Visite. Okay, die „Voruntersuchungen“ in der Praxis nehmen auch Zeit ein. Gewicht, Blutdruck, eventuell Blutabnahme und natürlich CTG. Der medizinischen Überwachung des Babys räumen wir eine hohe Priorität ein und sind bereit, dafür auch Zeit zu verwenden.
Hebammenzeit & Gyn-Zeit
Ein*e Ärzt*in schaut vergleichsweise viel auf die Daten, die zu dir und deinem Baby vorliegen. Und dann gibt es vielleicht noch einen Ultraschall oder eine vaginale Untersuchung. Wenn es keine Probleme oder Fragen deinerseits gibt, bist du meist längstens eine Viertelstunde im Behandlungszimmer.
Dann kommt die nächste Patientin.
Die Ärztin muss so arbeiten, wenn sie Geld verdienen will. Ich kreide es ihr nicht an. Medizinisch mag die Viertelstunde reichen. Menschlich dagegen kann sie dich in dieser Zeit nur sehr vage kennenlernen.
Wenn du die Schwangerschaftsvorsorge bei einer Hebamme durchführen lässt, dauern die Termine meist eine Stunde oder länger. Das liegt einerseits daran, dass die Hebamme all das selber macht, was in der Arztpraxis vom Sprechstundenpersonal übernommen wird (Blutdruck, Gewicht, Bauchumfang und so weiter). Der zweite Grund ist aber auch, dass die Hebamme weniger Zeit mit den Daten und mehr Zeit mit dir verbringt.
Du kannst mehr erzählen, was dich bewegt, und die Hebamme lernt dich dadurch besser kennen. Gerade, wenn du diese Hebamme auch bei der Geburt dabei hast (z.B. als Beleghebamme im Krankenhaus oder bei einer Hausgeburt), erfährt sie, wie du normalerweise drauf bist, worauf du Wert legst und was dich als Schwangere ausmacht. Sie kann so viel besser erkennen, wenn du verunsichert bist oder etwas nicht passt. Und dieses Erkennen kann während einer Geburt sehr wertvoll sein.
Aber auch, wenn du deine Schwangerschaftsvorsorgehebamme nicht bei der Geburt dabei hast, kannst du mit ihr über vieles reden, was nur bedingt in die Arztpraxis passt. Zum Beispiel über Gebärpositionen, über die Rolle deines*r Partner*in oder anderes.
Wenig Zeit für Kontakt zum Baby
Eine Doula hat mir einmal die schöne Geschichte erzählt, dass manche Kulturen den schwangeren Müttern bewusst bestimmte Aufgaben geben, die sie ganz alleine in der Natur ausführen. Denn Einsamkeit und Natur führen bei den allermeisten Menschen dazu, sich mehr mit sich selbst und dem Leben in sich zu beschäftigen.
Leider gibt es bei uns diese Tradition nicht. Wir müssen uns selber die Zeit nehmen, um Kontakt mit dem Baby aufzunehmen. Diese Zeit gilt dann schnell als unproduktiv, wenn es kein messbares Ergebnis gibt.
Mehr Zeit für Kontakt in die Welt
Einerseits nehmen wir uns weniger Zeit, um in uns zu lauschen. Und andererseits nehmen wir uns meist viel Zeit, dem unterschwelligen Brummen der Sozialen Netzwerke unseren Fokus zu opfern.
Müssen wir wirklich in fünf verschiedenen Windelfrei-Facebook-Gruppen aktiv sein? Ich verteufele Facebook nicht. Ich nutze es selber. Doch vielleicht ist es sinnvoll, auch hier achtsam zu sein, wann uns ein soziales Netzwerk gut tut und wann nicht.
Tipps für einen achtsamen Umgang mit Facebook in der Schwangerschaft habe ich hier zusammengestellt.
Zeit für konkrete Geburtsvorbereitung
Da Geburten immer mehr aus unserem Leben verschwinden, haben wir keinen so natürlichen Zugang mehr zum Wunder der Geburt. Also ist es sinnvoll, sich auf die Geburt vorzubereiten.
Was sinnvoll ist und was nicht, ist ausgesprochen individuell. Kurs oder Buch? Privat oder Gruppe? Wer soll den Kurs leiten? Zu all diesen Themen habe ich hier mehr Infos für dich zusammengestellt.
Für welche Variante auch immer du dich entscheidest. Wichtig ist, dass du dir die Zeit nimmst. Klar, Geburten sind normal. Aber es ist nicht normal, dass du noch nie eine Geburt erlebt hast, bevor du selber schwanger bist. Menschen können einen Marathon laufen. Niemand käme auf die Idee, diesen Marathon ohne Vorbereitung zu laufen. (Außer vielleicht der allererste Marathonläufer.)
Nimm dir Zeit für dein Baby. Ob das beim CTG ist (einfach mal in den Bauch horchen statt die Missy zu lesen) oder beim Yoga oder beim Seekuhtraining oder abends im Bett oder morgens in der S-Bahn.
Wie viele Stunden sind für eine Geburt normal?
Zeit ist bei einer Geburt relativ. Einerseits überbieten wir uns in Mommy Wars, um festzustellen, wer von uns am meisten gelitten hat. [Tipp zum Weiterlesen: Wehen Überbieten] Andererseits unterliegen Kliniken wirtschaftlichen Kriterien, so dass eine lange interventionsarme Geburt die Klinik Geld kostet. Der Kreißsaal ist besetzt und der Muttermund öffnet sich langsam – hört sich gut an, ist aber für das Konto der Klinik nicht förderlich. Und überhaupt – ab der 36. Schwangerschaftswoche darf dein Kind zur Welt kommen, und ab 3 Tagen über dem errechneten Termin musst du zum*r Gyn, wenn du eine Hausgeburt planst.
Klar gibt es Richtlinien. 24 Stunden nach einem Blasensprung sollten die Wehen eingesetzt haben. 1 Minute, 5 Minuten und 10 Minuten nach der Geburt werden die APGAR-Werte des Babys gemessen. Nicht früher, nicht später.
Richtwerte sind sinnvoll. Sie zeigen uns mögliche Komplikationen, bevor diese sich verschlimmern. Doch es sind eben Durchschnittswerte. Diese kommen auch dadurch zustande, dass es Abweichungen nach oben und unten gibt.
Wir sollten uns deshalb nicht immer nur auf die statistischen Mittelwerte verlassen, wenn es um Zeit unter der Geburt geht.
Eine lange Geburt hat ihre Berechtigung genauso, wie eine kurze Geburt. Überhaupt hat jede Geburt ihre Berechtigung.
Fazit: Wo ist die Zeit bei der Geburt?
Wir haben die Zeit. Wir müssen uns nur dafür entscheiden, sie zu nutzen. Heutzutage prasseln Informationen auf uns ein. Wir haben nicht die Zeit, alles zu lesen. Müssen wir uns ein schlechtes Gewissen machen?
Nein.
Deinem Baby ist es egal, ob die Bettwäsche gebügelt ist oder nicht. Wenn wir uns bereits während der Schwangerschaft in ein zeitliches Korsett drängen lassen, sind die Chancen gut, dass wir das auch während der Geburt tun.
Lasst uns lieber die Schwangerschaft nutzen, um zu merken, womit wir unsere Zeit gern verbringen. Hör auf, deine Zeit zu opfern, und nutze sie zu deinem Wohle.
Wer weiß, vielleicht wird die Geburt deines Kindes dann die schönste Zeit deines Lebens?