Immer mal wieder hört man von Kliniken, die zu wenig Personal haben und deshalb Gebärende ablehnen müssten. Die von uns aus nächste Geburtsklinik hat anscheinend genau das andere Problem…
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Um denjenigen gerecht zu werden, die sich mit den Worten „Frau“ oder „Mutter“ nicht identifizieren können, obwohl in ihrer Geburtsurkunde „weiblich“ steht, habe ich mich dazu entschlossen, in meinen eigenen Beiträgen „Mutter“ und „Frau“ jeweils mit dem Inklusionssternchen zu versehen. Ihr werdet also Frau* oder Mutter* lesen (falls der Text von mir kommt und nicht von anderen Menschen). Geschlechtergerechte und inklusive Sprache ist mir ein Herzensthema, allerdings ist (meine persönliche und die gesellschaftliche) Entwicklung dazu noch lange nicht abgeschlossen. Mal sehen, wie ich es in Zukunft angehe. Mehr zum Thema liest du unter anderem hier: Sollte ein Geburtsblog geschlechtsneutral sein, Gebären wie eine Feministin und Sex, Gender, Geburten und die deutsche Sprache.
Zeitungsartikel: Immer weniger Geburten
In unserer lokalen Wochenzeitung stand Ende Januar auf der Titelseite ein Artikel zur Geburtsstation in der nächsten größeren Stadt.
Im Artikel geht es (neben den beliebtesten Babynamen) auch um den deutschlandweiten Geburtenrückgang. Dieser sei auch dort zu spüren, hieß es.
Die Chefärztin wird zitiert mit den Worten: „Einen Vorteil hat diese Entwicklung auf jeden Fall: Wir können uns so viel intensiver um die Gebärenden kümmern!“ (Quelle: Märker, 20.1.24, Seite 1)
Erstmal leuchtet der Gedanke ein: Gleich viel Personal auf weniger Geburten heißt: Mehr Personal für jede Geburt.
So weit, so klar.
Nun, ich wohne schon etwas länger hier oben. Besagte Klinik stand auf der Kliniken-in-der-Umgebung-in-die-man-rein-entfernungstechnisch-von-der-Hausgeburt-verlegen-könnte-Liste. Damals. Bevor unser jüngstes Kind zur Welt kam.
Damals war es so, dass die Klinik nicht immer eine Hebamme vor Ort hatte. Es gab schlicht zu wenige Hebammen. Es wurden dann Hebammen aus dem Ausland engagiert (frei nach dem Motto „sollen doch die Frauen in Italien ihre Kinder ohne Hebamme zur Welt bringen“), um die Lücke zu schließen.
Offensichtlich gibt es nun wieder genügend Hebammen, um den Kreißsaal rund um die Uhr zu besetzen.
Eine Frage stelle ich mir trotzdem: Wie viele Geburten braucht die Station, um ihre Existenz zu rechtfertigen? Ich höre schon die Unkenrufe: „Na, wenn es so wenige Geburten sind, können die paar Frauen doch bestimmt auch nach XXX oder YYY fahren. „
Klar, können sie.
Aber leider ist das dann ganz bestimmt nicht mehr die wohnortnahe Versorgung, von der alle immer sprechen.
Immer mehr geschlossene Geburtsstationen
Die Tendenz ist klar: Immer mehr Geburtsstationen schließen.
Mother Hood e.V. hat Zahlen veröffentlicht, aus denen hervorgeht, dass von 2016 bis 2023 nur in einem Jahr (2020) weniger als zehn Stationen geschlossen wurden (nämlich 7). In den anderen Jahren waren es bis zu 19 Stationen im Jahr – gesamt von 2016 bis 2023 wurden in Deutschland 110 Geburtsstationen geschlossen. 110 Stationen in 8 Jahren. (Quelle)
Dass umgekehrt Kreißsäle wieder öffnen, ist extrem selten. Mir ist genau ein Fall bekannt, nämlich aus Bitterfeld. Ergänz gerne, falls du von noch weiteren wieder geöffneten Kreißsälen weißt.
Die schwarzen Punkte der geschlossenen Geburtsstationen werden also immer mehr.
Lies hier weiter:
Erst 1:1-Betreuung, dann Schließung?
Momentan profitiert die Geburtsstation also von den wenigen Geburten. Doch wie lange wird sie überhaupt noch existieren, wenn so wenige Frauen* ihre Kinder dort zur Welt bringen?
Ich befürchte, dass wir spätestens in zwei Jahren davon lesen werden, dass die Klinik Kosten sparen muss, dass deshalb weniger Hebammen dort arbeiten (weil ja weniger Kinder geboren werden) und dass eine 1:1-Betreuung nicht mehr möglich sein wird. (Und dass das ja aber die meisten Frauen auch gar nicht wollten, und es deshalb auch okay ist und kein akuter Handlungsbedarf besteht…)
Irgendwann ist die Personaldecke so dünn, dass bei Urlaub oder Krankheit (Überraschung: Hebammen sind menschliche Wesen!) eine Schicht nicht mehr besetzt werden kann. Mein Tipp: Entweder während der Sommerferien oder über Weihnachten.
Dann lesen wir, oh Wunder, davon, dass immer weniger Schwangere die Klinik als „ihre“ Klinik aussuchen („wenn ich nicht weiß, ob der Kreißsaal besetzt ist, fahre ich halt lieber direkt nach Berlin.“)
Und dann hat die Klinik wieder zu wenige Geburten, um wirtschaftlich tragfähig zu sein.
Und wird geschlossen.
Wöchtenliche Updates zu neuen Beiträgen
Klar ist es theoretisch möglich, dass ich einen Teufel an die Wand male, und alles ganz anders kommt. Die Krankenhausstrukturreform kommt ja auch noch, und was das für Kliniken im ländlichen Raum oder im Speckgürtel heißt, ist noch immer nicht ganz klar.
Vielleicht kommt alles auch ganz anders, Schwangere hören von der tollen 1:1-Betreuung und sogar aus Berlin kommen dann Schwangere zur Geburt ins Umland. (Organisatorische Vorteile hat das auf jeden Fall, denn in Brandenburg sind die Bürgerämter nicht so überfordert wie in Berlin. Die Geburtsurkunde bekommt man hier problemlos innerhalb weniger Tage.)
Und der Kreißsaal verzeichnet wieder mehr Geburten.
Vielleicht sogar so viele, dass mehr Hebammen eingestellt werden müssten (und das aber vielleicht aus wirtschaftlichen Gründen wiederum nicht passiert). Und dann leidet die Betreuung der einzelnen Gebärenden wieder darunter.
Ein instabiles Equilibrium
Okay, spätestens jetzt denkst du dir vermutlich, dass ich einen an der Waffel habe. (Hm, lecker, Waffel. Aber ich schreibe diesen Text während der Fastenzeit…)
Erst sage ich: Zu wenige Geburten sind problematisch. Dann sage ich, zu viele Geburten sind problematisch.
Und nun?
Genau das ist das Problem. Im Studium haben wir so etwas ein instabiles Equilibrium genannt, also ein Gleichgewicht, das sind nicht von selber einpendelt, sondern eher die Extreme aufschaukelt.
Am einfachsten ist es, wenn du dir ein instabiles Gleichgewicht wie eine Waage mit zwei Seiten vorstellst und ein stabiles Gleichgewicht als ein kurzes Pendel, das nach einer äußeren Krafteinwirkung zwar schwingt, aber schnell wieder zur Ruheposition findet.
Sobald auch nur der geringste Einfluss von Außen kommt (veränderte finanzielle Bestimmungen, mehr oder weniger Geburten, Personalengpässe), gerät die Waage aus dem Gleichgewicht.
Die Leidtragenden sind in beiden Fällen die Gebärenden und das Personal. Für beide ist es Mist, wenn man nie abschätzen kann, ob die entsprechende Klinik nun langfristig mit genügend Personal planen kann oder nicht — oder vielleicht ganz schließen muss.
Systemische Lösungen
Das Problem kann kaum auf Ebene der individuellen Klinik gelöst werden. Dafür sind die Kliniken zu abhängig von den Vergütungsstrukturen, von der Anzahl der Hebammen, die in Kliniken arbeiten wollen, und natürlich auch von gesellschaftlichen Entwicklungen wie der Anzahl der Geburten. (Ich frage mich zum Beispiel auch manchmal, warum ich Kinder in eine solche Welt gesetzt habe, in der Geflüchtete verhöhnt werden und die Klimarettung fraglich bleibt.)
Ob also die Klinik, von der ich oben erzählt habe, noch lange eine 1:1-Betreuung unter Geburten anbieten kann, hängt von mehreren Faktoren ab, die sie nicht planen kann. Wir brauchen systemische Lösungen: Genügend Hebammen, eine Bezahlung, die es möglich macht, auch wenige Geburten zu betreuen und trotzdem zurechtzukommen. Kliniken, die Kreißsäle als so selbstverständlich wie Rettungsstellen sehen und sie deshalb nicht schließen, sobald nicht genügend Umsatz da ist. Ohne systemische Lösungen wird das nix.
Und nachdem ich jetzt verschiedene Horrorszenarien an die Wand gemalt habe, ist es vielleicht Zeit, damit zu enden:
Ich freue mich über jede Geburt, die in dieser Klinik nun tatsächlich mit einer angemessenen Betreuung über die Bühne geht — und die Frauen* dort selbstbestimmt und gut unterstützt gebären können. Ich freue mich, so lange es dauert. Und hoffe, dass die Waage im Gleichgewicht bleibt.
Katharina Tolle
Wie schön, dass du hier bist! Ich bin Katharina und betreibe seit Januar 2018 diesen Blog zu den Themen Geburtskultur, selbstbestimmte Geburten, Geburtsvorbereitung und Feminismus.
Meine Leidenschaft ist das Aufschreiben von Geburtsgeschichten, denn ich bin davon überzeugt, dass jede Geschichte wertvoll ist. Ich helfe Familien dabei, ihre Geschichten zu verewigen.
Außerdem setze ich mich für eine selbstbestimmte und frauen*-zentrierte Geburtskultur ein. Wenn du Kontakt zu mir aufnehmen möchtest, schreib mir gern!
Das ist sehr interessant. Gestern hatten wir ein nahes Thema im Geburtsvorbereitungskurs. Da wird extra nach Berlin angereist, obwohl es eine Klinik mit Geburtsstation in der Heimatstadt gibt, weil es doch so hip ist, wenn „Geburtsort: Berlin“ in der Geburtsurkunde steht. Ein Pendeln in die ländliche Region? Das wäre ja mal was.
Und was die Krankenhauslage angeht: Da werden die Auswirkungen der Privatisierung der kritischen und notwendigen Infrastruktur ersichtlich. Lässt sich auch in anderen Wirtschaftssektoren erkennen. Es hat wohl niemand mit dem gewinnmaximierenden Unternehmertum gerechnet.
Liebe Marion,
ach du meine Güte, die Menschen, die extra nach Berlin fahren, damit in der Geburtsurkunde „Berlin“ steht, sollten sich darauf gefasst machen, wie lange es in Berlin dauern kann, diese Geburtsurkunde dann auch zu bekommen 😉
Du hast vollkommen Recht, Gewinnmaximierung in der Geburtshilfe ist definitiv ein Problem. Man würde ja auch keine Rettungsstelle schließen, weil sie nicht rentabel ist…
Liebe Grüße!
Katharina