Nina Finken habe ich 2023 kennengelernt, als sie mich fragte, ob ich bei ihrem Kongress Geburt ins Leben dabei sein wolle. Seitdem stehen wir in Kontakt, tauschen uns zu Geburtskultur und Feminismus aus. Da lag es nahe, dass wir uns auch in einem Interview mal ausführlich unterhalten.
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Liebe Nina, stell dich doch bitte kurz vor!
Ich bin jetzt 38 Jahre und komme aus einer Kleinstadt im Ruhrgebiet. Aktuell bin ich vor allem alleinerziehend Mutter eines aktuell zweieinhalbjährigen Sohnes und wir leben zu zweit in Wien. Ich bin seit zehn Jahren approbierte Ärztin mit sieben Jahren Erfahrung in der klinischen Neurologie, weitergebildet in traditioneller Indischer Medizin (dem Ayurveda) und zweifach ausgebildete Yogalehrerin… und noch vieles mehr. Zuletzt habe ich als Kongressveranstalterin vom GEBURT INS LEBEN-Kongress gewirkt und bin damit der Stimme meines Herzens gefolgt, die mich wochenlang sogar nachts an nichts mehr anderes denken ließ, bis ich dieses Projekt anging.
Wie kam es, dass Geburten dir ein Herzensanliegen wurden?
Meine eigene Kindheit und die Themen „Frau sein – Mutter werden“ beschäftigen mich schon mein Leben lang extrem. Eigentlich habe ich in den letzten 20 Jahren fast jede freie Minute damit verbracht, mich darin irgendwie weiterzubilden oder selbst in mir etwas zu heilen und Antworten dazu zu finden, die sich für mich stimmig anfühlten – unter anderem, weil ich mich seit meiner Jugend selbst durch meine Mutter missbraucht fühlte und auch traumatisiert durch das „Nicht-gestillt-worden-sein“. Diese Themen zeigten sich auch immer wieder in gynäkologischen Symptomen. Außerdem litt ich weiter unter den Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen durch einen Lehrer am Gymnasium, die von meiner Mutter gedeckt worden waren.
Ich wusste, ich muss diese Themen erst in mir aufarbeiten wollte, bevor ich selbst schwanger werden und die Mutter sein könnte, die ich selbst sein möchte!
Exkurs: Du sprichst davon, dass du viel in dir geheilt hast. Wer sich da jetzt angesprochen fühlt: Was empfiehlst du dieser Person?
(bitte zum Lesen aufklappen)
Während meiner Schwangerschaft habe ich vor allem gelernt, meine eigenen Grenzen zu achten. Sowohl körperlich als auch emotional. Das ist etwas, was ich – wie viele in unserer Generation – nicht in meiner Kindheit lernen durfte. Die bereits zu Beginn der Schwangerschaft starke Erschöpfbarkeit und mein nachlassendes Gedächtnis waren ein harter Kampf für mein Ego, denn meine Belastbarkeit, Leistungsfähigkeit und insbesondere mein sehr gutes Gedächtnis waren mein Leben lang etwas, worauf ich mein Selbstbewusstsein aufgebaut hatte. Auch da hieß es schon: LOSLASSEN! Und mein Selbstwertgefühl und mein komplettes Selbstbild neu definieren, auch meine Werte hinterfragen!
Das war ein harter, aber sehr schöner und lohnender Prozess. Deshalb möchte ich genau darin heute auch werdende Mamas unterstützen, dies bereits in der Schwangerschaft oder sogar davor zu tun. Viele fühlen sich nämlich nach der Geburt völlig davon überrumpelt, weil sie sich zum Beispiel mehr mit dem Kauf des besten Kinderwagens und der Gestaltung des Kinderzimmers beschäftigt haben, statt mit der Essenz des Mutterwerdens – ihrer eigenen Persönlichkeit.
Und ich habe mich auch mehr von Menschen distanziert, die ich vorher in meinem Leben unnötigerweise toleriert hatte. Mir wurde auch für diesen Bereich klar: „Die Verantwortung ist jetzt nicht mehr nur für mich da, sondern auch für einen weiteren Menschen. Ich darf und muss nun noch achtsamer „aussortieren“ und auch auf meine Energie achten. Wem schenke ich noch Aufmerksamkeit und damit meine Energie und wo hebe ich sie mir lieber für wichtigere Menschen in unserem Leben auf?“
Außerdem habe ich nochmal das Gespräch mit meiner Halbschwester gesucht, die bereits drei Kinder hatte und über deren Geburten mir immer „Horrorgeschichten“ von meiner Mutter erzählt wurden. Ich suchte selbst das Gespräch mit ihr und ließ mir alle drei Geburtsgeschichten von ihr erzählen. Sie ist auch Ärztin und war schon immer alternative Wege gegangen und hat dafür viel Kritik geerntet in unserer Familie.
Es war unglaublich heilsam, endlich die „Wahrheit“ zu hören, die Geschichten aus dem Mund der tatsächlichen Mutter, ohne Verzerrung von jemand anderem, der seine eigenen Ängste und Vorurteile darauf projizierte. Das kann ich nur jeder werdenden Mama raten: Sprich direkt mit den Frauen! Lass dir ihre Geschichten erzählen. Im Detail. Hab keine Angst davor! Spür für dich jedes Mal hinein: „Was ist da mein Gefühl zu? Was kommt da in mir hoch? Welche Anteile und vielleicht auch welche eigene Angst oder übernommene Angst?“ Und dann geh diese an, recherchiere nach Fakten. Und bilde dir deine eigene Haltung dazu. Denn es gibt kein „großes oder kleines Risiko“ – Risikoempfinden ist höchstindividuell. Was für die eine groß erscheint, ist für die andere klein. Was für die eine schön ist, ist für die andere unangenehm. Und lass dir keine Angst einjagen von irgendwelchen Menschen, die dir von ihren Ängsten, Zweifeln und Glaubenssätzen erzählen. Grenze dich ab und mach dir immer wieder klar: Das ist deren Bild!
Lass dir erst recht keine Angst machen von Männern, die selbst keine Geburt erleben könnten. Sie haben da meines Erachtens nach gar nichts zu melden – außer wertschätzend unterstützend und demütig fragend Raum zu halten. Wenn sie das nicht tun, haben sie in deinem Raum als Schwangere und Gebärende nichts zu suchen.
Und so habe ich das gemacht – bis ich mich dann bereit fühlte, und mit 35 Jahren mehr oder weniger überraschend schwanger wurde. Mein Kinderwunsch blieb nämlich vorher noch jahrelang unerfüllt, obwohl mein Kopf meinte, ich wäre schon bereit. Im Nachhinein weiß ich jetzt aber, dass ich es innerlich eben noch nicht war. Deshalb war alles richtig so und ich bin sehr dankbar für diese „Wartezeit“.
In der Schwangerschaft habe ich mich dann sehr stark von anderen abgegrenzt und viel Zeit alleine verbracht (es war auch noch die Zeit der Lockdowns noch vor den Impfungen). Ich habe viel in mich hineingespürt und mir wurde sehr schnell klar, dass ich auch hier „alternative Wege“ gehen würde, wie zuvor schon als Ärztin. Genau einen Monat, bevor ich schwanger geworden war, hatte ich nämlich beschlossen, dem staatlichen Gesundheitssystem den Rücken zu kehren, weil ich es für mein Wertsystem ethisch nicht mehr vertreten konnte, dort weiter zu arbeiten und meine Unterschrift unter so vieles zu setzen.
Ich entschied mich nach mehreren Monaten für eine Alleingeburt. Viele eigene Erfahrungen mit den Untersuchungen während der Schwangerschaft und ein vielseitiger Austausch mit Müttern und Geburtsbegleiterinnen europaweit (unter anderem aus England, Portugal, Frankreich und Mazedonien) spielten da eine Rolle.
Letztendlich war es dann natürlich meine eigene sehr intensive Geburtsreise von insgesamt 3,5 Tagen – in einem Naturschutzgebiet im Alentejo in Portugal – die mich mein Herzensthema finden ließ. Ich fand die Antwort auf eine Frage, die mich schon vor meinem Medizinstudium umtrieb: „Wo beginnt Gesundheit? Wo kann ich ansetzen, um den Menschen wirklich möglichst früh in der Wurzel zu helfen, sich in diesem Leben wohl zu fühlen und glücklich zu werden?“ – BEI DER GEBURT!
In der Schwangerschaft und ganz entscheidend im Prozess der Geburt kann so viel für ein glückliches Leben getan werden – für Mutter und Kind wohlgemerkt! Oder es endet dort eben schon sehr früh durch ein Trauma.
Den Entschluss, einen „Alleingeburts“-Kongress zu organisieren, traf ich wenige Wochen vor meiner ersten Geburtsreise, noch nichts ahnend, wie tief das gehen würde und wie intensiv ich mich damit beschäftigen würde.
Den Kongress hast du dann nach der Geburt deines Sohnes ausgerichtet. Darüber haben wir uns ja auch kennengelernt.
Was war dein Ziel mit diesem Kongress?
Mein Ziel mit dem Kongress GEBURT INS LEBEN* war und ist die unabhängige Information von (werdenden) Eltern und auch Geburtsbegleiterinnen über das, was in der aktuellen Geburtshilfe tatsächlich passiert und was daneben möglich ist!
Es ging mir dabei um die Ermächtigung der Frau, der Mutter, der Gebärenden – aber auch der Geburtsbegleiter:innen. Ich wollte alle alternativen und neuen Wege rund um Geburt und Elternschaft aufzeigen, die die Menschen vielleicht zuvor noch nie gehört haben.
Dabei kamen deshalb Expertinnen und Experten sowohl aus dem staatlichen Gesundheitssystems (Ärztinnen und Hebammen) als auch von „außerhalb des System“ zu Wort, wie z.B. Doulas, viele Alleingebärende und natürlich auch du als politisch aktive Autorin und Blogbetreiberin.
Und grundsätzlich sollte damit auch dieser Begriff „im System“ und „außerhalb des Systems“ diskutiert und aufgeweicht werde. Denn wir brauchen Verbindung – nicht noch mehr Trennung! Trennung schwächt uns Frauen als Kollektiv.
Mein größter Wunsch ist es, mit meinem Wirken mehr Verbindungen und Verbundenheit zwischen all diesen so vermeintlich unterschiedlichen „Gruppierungen“ wiederherzustellen. Nur so können wir das Beste zusammenbringen und eine wirklich gesunde, starke und tragfähige Gemeinschaft (aka Gesellschaft) entstehen lassen!
Der Schwerpunkt mit der Alleingeburt war mir wichtig, nicht primär wegen meiner eigenen Geburtsgeschichte, sondern weil ich finde, dass wir alle am meisten über wirklich „natürliche ungestörte“ Geburten von Alleingeburten lernen können, denn dort sind sie eben wirklich zumeist ungestört.
Und statt Alleingebärende zu verurteilen, sollte man ihnen zuhören, was sie aus ihren Erfahrungen zu teilen haben und daraus lernen – sowohl als Hebamme als auch als Schwangere, unabhängig davon, ob man diesen Weg für sich wählen würde oder nicht. Dieser Ansatz ist mir extrem wichtig: Wir können alle so viel voneinander lernen, wenn wir nur mit offenem Herzen zuhören!
Was war für dich die wichtigste Erkenntnis aus dem Kongress und was hat dich überrascht?
Am meisten überrascht hat mich, wie orientierungslos und auch teilweise hilflos sich das ganze Feld im Gesamten anfühlt. Nicht unbedingt die einzelnen Personen an sich. Es gibt so viel Trennung und so wenig Zusammen-Wirken. Es gibt keine gemeinsame Richtung, kaum Zusammenhalt – obwohl eigentlich alle dasselbe wollen.
Alle reden von „besserer Kommunikation“ und „mehr Bewusstsein schaffen“, aber es findet tatsächlich sehr wenig Verbindung statt. Das Zusammenführen all ihrer großartigen Erfahrungsschätze und Kompetenzen würde das ganze Universum an Möglichkeiten sprengen, stattdessen werden Sündenböcke gesucht und Verantwortungen verschoben: „Die wollen ja nicht.“
Mütter sähen nicht, wie wichtig das Thema xy sei oder informierten sich zu wenig/zu spät (erst wenn sie schon eine traumatische Geburt hatten oder ein Stillproblem haben usw.). Hebammen würden sich zu wenig für ihren eigenen Berufsstand einsetzen. Die Politik müsse etwas ändern – ohne sie gehe nichts. Die Krankenkassen und Ärzt:innen wären nicht am Wohl der Patient:innen interessiert. Und die Birthkeeper und „hippen Insta-Hebammen“ würden Eltern verwirren und Dinge erzählen, die so nicht umsetzbar wären (obwohl diese sie längst in ihrem Leben umgesetzt haben!)
Das ist so als würde man sagen „Die Zahncreme war zu billig und die Zahnärztin mag mich nicht, deshalb habe ich jetzt Karies.“
Wenn das jetzt polemisch wirkt, dann leider nicht, weil ich es so in Worte fasse, sondern weil das vielerorts die Realität ist: Es herrscht viel Angst vor Konkurrenz, Sorge in den eigenen sowieso schon eingeschränkten Kompetenzbereichen noch mehr beschnitten zu werden, eventuell noch weniger Geld zu verdienen (echte Existenzangst) und auch Neid auf die, die sich selbst frei gemacht haben, und so arbeiten, wie „die anderen“ eigentlich auch wollen. Dabei könnten das alle!
Nur die Frustration und auch die Resignation sind so groß, dass sie die meisten Menschen aktuell eher „wie gelähmt“ da stehen lassen und verzweifelt sagen: „Ich kann nichts tun. Mir sind die Hände gebunden“ und suchen die Begründung im Außen.
Dabei liegt die Lösung dort, wo Verantwortlichkeit immer beginnt – und aufhört: Bei einem selbst!
Und genau das hat mich nochmals darin bestärkt, dass genau solch ein Zusammenführen von Eltern und allen Professionen der Geburtsbegleitung und Frauen- und Kindergesundheit extrem fruchtbar sein kann, um die vielfältigen Möglichkeiten aufzuzeigen, zu ermutigen, diese wahrzunehmen, Inspirationen zu schenken sowie Mut und Zuversicht.
Und Freude an Verantwortung, die dir erst die Möglichkeit zur Mitgestaltung deines Umfeldes gibt.
Genau das ist auch, was frische Eltern brauchen – und auch wir als Frauen im Kollektiv. Deshalb ist es im Kern ein feministisches Thema. Und nur wenn wir diese Einstellung in unserem Herzen tragen, können wir diese auch weitergeben.
Der Kongress richtete sich sowohl an Fachpersonen als auch an Eltern (und Eltern mit Fachhintergrund). Du hast mir schon erzählt, dass du dich jetzt auf die Fachpersonen konzentrieren willst.
Was genau planst du jetzt?
Im Kongress wurde sehr deutlich, dass sich alle Geburtsbegleiter:innen mehr Vernetzung und Austausch wünschen. Gerade diejenigen, die außerklinisch arbeiten, fühlen sich oft alleine, aber auch die „Andersdenkenden“ wünschen sich Gleichgesinnte für mehr Rückhalt, den sie oft innerhalb ihres klinischen Umfelds nicht haben.
Ab sofort biete ich deshalb die GEBURT INS LEBEN-Mastermind für Geburtshüterinnen an.
Der Begriff Mastermind kommt aus dem Businessbereich und bezeichnet eine Gruppe von Unternehmer:innen, die regelmäßig zusammenkommen, um ihre Schwarmintelligenz zu nutzen und gemeinsam zu wachsen.
Und genau das darf dieser Raum bieten!
Die Mastermind für Geburtshüterinnen
(bitte zum Lesen aufklappen)
Das bietet Nina in ihrer Mastermind an:
- Zweimal im Monat live per Zoom und Aufzeichnungen dieser Treffen zum Nachschauen
- What’sApp-Gruppe zum Austausch aller Frauen in der Mastermind
- Nährende Rituale und gemeinsame Meditation im Kreis von Gleichgesinnten
- Austausch und gegenseitige Inspiration rund um die Begleitung von Müttern und Gebärenden füt eine neue Geburtskultur
- Bestärkung neue Ideen umzusetzen und auszuprobieren
- Unterstützung und Vorbereitung für Gespräche mit Vorgesetzten für strukturelle Veränderungen
- Ein geschützter Raum für die Besprechung von schwierigen oder belastenden Situationen im beruflichen Umfeld
- Unterstützung bei technischen Fragen rund um den Aufbau von Online-Angeboten, damit sie ihre evtl. Berührungsängste verlieren
Auch online-Angebote ermächtigen Geburtsbegleiterinnen! Ich habe sehr viele Zuschriften von Hebammen und anderen erhalten, die sagten, „ich darf ja nur so und so viel abrechnen dafür“ oder sie könnten sich ja nicht wie die Frau xy da online präsentieren. Das stimmt so nicht. Es gibt neben den üblichen Wegen noch viele andere Möglichkeiten, zusätzlich anderweitig Mütter oder eben auch andere Geburtsbegleiterinnen zu unterstützen!
Und genau da sehe ich die Zukunft: Denn innerhalb des Systems ändern sich die Dinge nur sehr zäh und langsam, wie die letzten 40-50 Jahre gezeigt haben.
Wenn wir wirklich etwas erreichen wollen, dann müssen wir neue Wege gehen, die Möglichkeiten der Online-Vernetzung nutzen und uns als Frauen gegenseitig bestärken – die Mütter informieren und ermächtigen, und uns echten Halt geben.
Und ja! Es wird immer welche geben, die wir nicht erreichen. Noch nicht. Aber jede einzelne, die ich erreiche, ist ein Gewinn und eine Stärkung für das Kollektiv aller Frauen und die Zukunft unserer Kinder!
Dieser Gedanke „So erreiche aber nicht die, die es am nötigsten haben, die haben ja kein Geld/die informieren sich nicht von sich aus“ sollte uns nicht ausbremsen. Das ist falsch gedacht. Längerfristige kulturelle Veränderungen passierten immer aus den mehr gebildeten und finanziell besser situierten Teilen der Gesellschaft heraus. Und im Endeffekt werden alle davon profitieren, wenn sich die Veränderungen dann tief verankern konnten.
Mir schweben viele tolle Ideen vor:
Was wäre, wenn eine Hebamme mit 40 Jahren Berufserfahrung online Weiterbildungen zum Beispiel für Hausgeburten für junge Hebammen anbietet? Viele sind da unsicher, weil sie nur das klinische Umfeld kennen.
Oder was wäre, wenn noch mehr solcher Masterminds und Kreise für Geburtsbegleiterinnen (online) gegründet werden würden?
Und auch das Feld der Geburtsnachbesprechungen darf wachsen.
Da ist so viel Bedarf und so viel Potential für die Ermächtigung der Frau und Mutter – auch im Nachhinein noch. Es sollte nicht nur um die Vorbereitung von Geburten gehen, sondern noch viel mehr um das danach! Was wir in uns heilen, heilen wir immer auch für das Kollektiv!
So vieles ist möglich und es ist alles in uns. Wenn Frauen zusammen kommen, können sie mit ihrer Kraft und ihren Ideen das Universum der Möglichkeiten sprengen!
All mein Wissen und meine Erfahrungen als Ärztin, als Alleingebärende, als Kongressveranstalterin und ehemaliger Frauengesundheits-Coach lasse ich da natürlich auch mit einfließen.
Ich würde mich freuen, wenn die Mastermind voll von den unterschiedlichsten Frauen wird, sowohl außerklinischen als auch klinischen Geburtsbegleiter:innen, Stillberaterinnen usw. Es darf und soll bunt werden. Denn nur gemeinsam können wir den Frauen und Kindern das Beste zukommen lassen!
Und dieser Kreis der Geburtshüterinnen und Frauenbegleiterinnen darf wachsen und sich entwickeln, da es ja eine ganz neue Idee ist. Noch ist nicht ganz klar, was die Schwerpunkte sein werden, denn es wird immer an die aktuellen Bedürfnisse der Frauen im Kreis angepasst. Mal mehr Redebedarf und Austausch über das, was die Frauen gerade bewegt, mal mehr neue Ideen umsetzen und entwickeln. Da spüren wir immer wieder gemeinsam in sharing-circles rein.
Wenn du jetzt mit einem Fingerschnippen etwas in der Geburtskultur ändern könntest, was wäre das?
Das Konkurrenzdenken, was in uns Frauen durch Jahrtausende von Patriarchat gesät wurde, ausschalten. Konkurrenz unter Geburtsbegleiterinnen brauchen wir nicht. Konkurrenz unter Müttern erst recht nicht.
Dieses Konkurrenzdenken und damit auch das „Suchen nach einem Sündenbock“ sind typische Ausuferungen von Strukturen, die nicht am Wohle der Gemeinschaft, der Frauen und Kinder interessiert sind. Das sind meiner Meinung nach die grundlegenden Ursachen und Irrwege, die wir auflösen dürfen.
Und: Die Verbindung der Frauen mit ihrem Schoßraum und ihrer inneren Stimme wiederherstellen. Dafür habe ich auch Meditationen angeboten. Diese Verbindung führt dazu, dass wir Frauen unserer Intuition wieder vertrauen können – sowohl in der Schwangerschaft und Geburt als auch als Geburtsbegleiterin, Hebamme, Doula oder Ärztin!
Und wenn es etwas gäbe, was wirklich konkret von heute auf morgen weg sein dürfte, dann fallen mir zuerst drei Sachen ein:
1. Das Abnabeln bei allen Neugeborenen frühestens, wenn die Nabelschnur auspulsiert UND weiß ist („wait for White“). Das ist so easy zu händeln und eigentlich kein Mehraufwand.
Sogar und insbesondere bei Reanimationen! Manche Kliniken haben sogar mittlerweile Reanimationsbettchen, die dann über der Mama platziert sind, um das Baby zu reanimieren, während die Plazenta noch in der Gebärmutter ist und die Nabelschnur intakt. Das Outcome dieser Kinder ist nachweislich besser. Und es gibt auch Hinweise darauf, dass das Risiko für einen Neugeborenenikterus (Neugeborenengelbsucht) geringer ist, wenn das Blutvolumen aus der Plazenta noch in das Kind fließen durfte, bevor die Nabelschnur durchtrennt wird.
Das krasse ist es scheint auch schon seit mind. 2015 in den Guidelines der ERC zu stehen, aber viele scheinen das nicht zu wissen und sich nicht dran zu halten….
Studien zur Nabelschnurdurchtrennung
(bitte zum Lesen aufklappen)
Nina bezieht sich unter anderem auf folgende drei Studien, die dir als Anfangspunkt für eine eigene Recherche dienen können:
- Katheria, Lee, Knol, Irvine, Thomas: A review of different resuscitation platforms during delayed cord clamping, Journal of Perinatology 41, S. 1540 – 1548. https://www.nature.com/articles/s41372-021-01052-3
- Avinash, Babu Mendu, Pandala, Kotha, Yerraguntla: Outcomes of Neonatal Resuscitation With and Without an Intact Umbilical Cord: A Meta-Analysis, Cureus 15(8), https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC10544125/
- Nelle, Zilow, Kraus, Bastert, Linderkamp: The effect of Leboyer delivery on blood viscosity and other hemorheologic parameters in term neonates, American Journal of Obstetrics and Gynecology, 1993, https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/8333451/
2. Das Abschaffen von Dammschnitten. Diese Genitalverstümmelungen heilen schlechter als Risse und bringen routinemäßig keine Vorteile für Mutter und Kind – ja es gibt immer Ausnahmen. 25-30% sind keine Ausnahmen. Ein Dammschnitt wird immer noch gemacht, weil man lange den Irrglauben hatte, man könne damit möglichen Dammriss verhindern. Fakt ist aber, und das ist mittlerweile statistisch nachgewiesen, dass Dammrisse weniger Komplikationen mit sich bringen als Schnitte!
Dammschnitte haben ein doppelt so häufiges Risiko für Stuhlinkontinenzen, und ein mehr als 50 Prozent höheres Risiko für langfristige Schmerzen und Probleme beim Geschlechtsverkehr. Und Dammschnitte müssen genäht werden. Ein Dammriss kann in den meisten Fällen (Grad 1 und meistens auch Grad 2) natürlich heilen, ohne dass eine Nahtversorgung zwingend notwendig ist. Man kann sich natürlich auch entscheiden, nähen zu lassen. Das sollte eine Individualentscheidung bleiben. Auch von den Nähten können Frauen langfristige Probleme davon tragen, über die sie gut informiert werden sollten.
Und falls tatsächlich eine Ausnahme eintreten sollte, wo die Beschleunigung des Geburtsprozesses notwendig ist, sollte eine Schnittführung gewählt werden, die die Klitorisschenkel nicht verletzt. Aktuell wird in der Leitlinie zur vaginalen Geburt am Termin noch die Klitoris-verletztende mediolaterale Schnittführung als erste Empfehlung (!) aufgeführt.
Der Verein Mother Hood e.V. hat erreicht, eine kritische Stellungnahme dazu in der Leitlinie zu hinterlassen. Leider wurde die Stimme dieses Frauenrechts-Vereines nicht ganz gehört, denn eigentlich wollten sie erreichen, dass aufgrund der aktuellen Studienlage der Dammschnitt als Empfehlung gänzlich gestrichen wird.
Exkurs: klitorale Verletzungen als Folge von Dammschnitten
(bitte zum Lesen aufklappen)
Ich zitiere hier aus dem Sondervotum von Mother Hood zu der Empfehlung zu mediolateralter Schnittführung bei Dammschnitten in der Leitlinie zur vaginalen Geburt am Termin:
Es ist davon auszugehen, dass eine Verletzung durch einen mediolateralen Dammschnitt maßgeblich den von der Leitliniengruppe festgelegten kritischen Endpunkt der subjektiven Gesundheitseinschätzung beeinflusst. So berichteten Frauen fünf Jahre nach einer mediolateralen Episiotomie von signifikanten sexuellen Beeinträchtigungen im Vergleich zu den Kontrollgruppen. (Seite 147)
3. Das klinische Gebärbett, besonders die Rückenlage. In die werden die meisten Gebärenden nämlich bis heute entweder abschnittsweise oder die ganze Zeit über hineinkomplimentiert.
Denn wenn jetzt noch jemand ankommt und sagt: „Ja aber die Herztöne fielen beim Kind ab, wir mussten einen Dammschnitt machen, damit es vorwärts ging, sonst…“ – Dann kann und darf das nur abschließend beurteilt werden, wenn die Gebärende nicht in der Rückenlage liegt! Denn in dieser denkbar ungünstigsten Position für eine Hochschwangere oder Gebärende kommt es zu einer Kompression der zentralen venösen Blutgefäße und dadurch zu einem verminderten Rückfluss des Blutes zum Herzen. Dies führt zu einem Blutdruckabfall bei der Mutter und damit auch zu einer Minderversorgung beim Kind.
Zusammenfassend gehe ich sogar soweit, dass ich behaupte, dass alle Studien, die mit Gebärenden in Rückenlage durchgeführt wurden, nichts wert sind, da die Rückenlage keine natürliche oder gar optimale Geburtsposition ist (insofern die Rückenlage nicht tatsächlich von der Gebärenden frei gewählt und intuitiv eingenommen wurde). Da diese Position noch zu wenig hinterfragt wird, gibt es oft keine Dokumentation der Gebärpositionen in gängigen Studienprotokollen.
Was diese ganzen Einzelheiten angeht, ist es echt schwierig zu sagen, wo man beginnen soll. Das „wait for white“ ist wohl ohne große Mehrarbeit am einfachsten durchzuführen und bringt viele Vorteile. Ich könnte mich allerdings stundenlang über alles mögliche dazu auslassen, was ich jetzt hier noch nicht genannt habe. Es ist einfach so viel zu verändern!
Deshalb empfinde ich es so wertvoll, diese Situation wirklich an der Wurzel anzuschauen und sich mit den Themen Frau sein, Schoßraumverbindung und Mutterwunde auseinanderzusetzen. Von da aus verstanden – gefühlt – begreifen wir all das so viel leichter und bekommen eine glasklare Orientierung.
Lies hier weiter:
Wo findet man dich, wenn man mehr über deine Arbeit erfahren will?
Alle meine aktuellen Projekte findest du hier:
Und auf dem Laufenden halten kannst du dich am Besten über meinen Newsletter.
Dort schalte ich auch immer wieder neue Interviews rund um GEBURT INS LEBEN mit Expertinnen und Experten frei und stelle sie mit ihrer wertvollen Arbeit vor.
GEBURT INS LEBEN darf als Plattform für die Ermächtigung der Frau, Inspirationen und Informationen rund um Kinderwunsch, Schwangerschaft, Geburt und die ersten Kinderjahre für Eltern und Geburtsbegleiter:innen immer weiter wachsen! Ich freue mich, wenn auch für dich etwas dabei ist.
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Nina Finken
Nina Finken ist Medizinerin und Mutter eines Sohnes. Ihr Traum ist es, dass Geburten Menschen verbinden, statt sie zu trennen. Deshalb sammelt sie Wissen aus allen Berufsgruppen und Teilen der Welt.
Katharina Tolle
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