Reaktion auf MAITHINK X: Natürliche Geburt

MAITHINK X strahlte am 2. April 2023 die Folge „Der gefährliche Naturtrend“ aus, in der Dr. Mai Thi Nguyen-Kim unter anderem auf das Phänomen der natürlichen Geburt einging. In diesem Beitrag gehe ich auf die Folge und ein Instagram-Video zum Thema ein.

Falls du die Folge bisher nicht gesehen hast: Bis 2038 ist sie noch in der ZDF-Mediathek zu finden: Der gefährliche Naturtrend. Und das Instagram-Video findest du hier oder kannst es dir bei entsprechenden Datenschutzeinstellungen direkt hier Browser anschauen:

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Sehr geehrte Frau Dr. Nguyen-Kim, liebe Mai Thi,

zunächst einmal: Vielleicht hältst du dein Baby schon im Arm, wenn du diesen Brief liest. Insofern darf ich aller Wahrscheinlichkeit nach sagen: Herzlichen Glückwunsch! Ich hoffe wirklich sehr, dass es dir und dem Baby gut geht. Eine einhundertprozentige Wahrscheinlichkeit dafür gibt es auch heute leider nicht. (Vielleicht hast du zur Geburt sogar auf Insta gepostet, aber da ich keinen Account habe, bekomme ich so etwas nur mit, wenn mich jemand darauf stößt.)

Und jetzt komme ich auch schon, ohne lange Umschweife, zum Grund meines Briefes.

Ich mag deine Sendung nämlich sehr. Genau deshalb möchte ich dir schreiben zur „natürlichen Geburt“. Als ich die Folge zum Naturtrend sah, kam ich nämlich aus dem Nicken gar nicht mehr heraus — zumindest zunächst. Ich versuche mich im Folgenden daran, die entscheidenden Punkte der Sendung zusammenzufassen. So kannst du direkt sehen, auf was ich mich beziehe und ob ich vielleicht Denkfehler eingebaut habe.

Fakt 1: Der Natur ist es egal, ob wir leben

So lange die Art als ganzes überlebt, ist das Überleben einzelner Individuen unwichtig. Und ob die ganze Art überlebt, ist eigentlich auch unwichtig. Denn wenn sie nicht überlebt, übernimmt halt eine andere Art die Nische.

Fakt 2: Die Physiologie des Menschen ist ein Kompromiss

Wir haben einen großen Kopf, damit unser Hirn da rein passt. Wir haben schmale Becken, weil sonst unsere Eingeweide durch den Beckenboden schlüpfen würden. Die großen Köpfe müssen durch die kleinen Becken. Das ist doof. Der Kompromiss ist, dass die Säuglinge als Frühgeburten zur Welt kommen — wie „die Natur“ in deinem Video so schön sagt: „lächerlich hilflos“. (Was wiederum okay ist, weil das große Hirn dafür sorgt, dass die Erwachsenen genügend Hirnleistung übrig haben, um sich um diese hilflosen Wesen zu kümmern. Und was dann wiederum dazu beiträgt, dass die Babys aufgrund der vielen Sinneswahrnehmungen überhaupt erst so viel von ihrer Umwelt erfahren und die Entwicklung des Hirns entsprechend ihren Lauf nehmen kann.)

Oh. Bei der Recherche zu diesem Brief habe ich allerdings einen spannenden Artikel gefunden. Die neue (naja, schon ein paar Jahre alte) Theorie, die im Zeitungsartikel vorgestellt wird, heißt (kurz gesagt): Längere Schwangerschaften seien einfach zu energieintensiv für die Schwangere.

Ich hab versucht, die ursprüngliche Studie zu finden. Das ist mir nicht gelungen. Wenn du sie findest, gib mir gern Bescheid!

Im Prinzip ist es für die Argumentation in diesem Text auch egal, warum genau das Becken so schmal ist, wie es ist. Denn wir sind uns wohl einig darin, dass Evolution eben ganz viel Zufall ist und der Mensch nicht das Produkt einer ausgefeilten Bauanleitung, sondern eines fortwährenden Trial-and-Error-Prozesses ist. Dabei muss stets ein Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Anforderungen gefunden werden.

(Wusstest du übrigens, dass fast alle Anatomieskelette, die man für den Biounterricht so bekommen kann, männliche Becken haben?!)

Fakt 3: Natürlichkeit hat mit Sanftheit nichts zu tun

Nichts in meiner Umwelt ist sanft. Okay, das Fell unserer Katze ist sanft — zumindest so lange, bis ich darin eine Zecke oder so entdecke. (Hui, das reimt sich. Das Sams würde sich freuen!)

Foto: Cong H

Egal, wo wir hinschauen. Natur ist nicht sanft. Wer mal versucht hat, einem Neugeborenen „sanftes Stillen“ zu vermitteln, wird mir zustimmen. Für das Überleben ist die Kategorie „sanft“ einfach viel zu unwichtig im Vergleich zu „satt“ oder „sicher“.

Fakt 4: Natürlich ist nicht per se besser

Eine „natürliche Geburt“ ist nicht per se besser als eine Geburt mit medizinischer Unterstützung. Und du hast vollkommen recht: Wenn dir jemand im Nachhinein sagt, dass du dies oder jenes hättest tun sollen, um eine natürliche Geburt zu erreichen, ist das eine Einmischung, die nicht hilft. Und es wäre eine bessere Welt, wenn du dafür nicht erst fuck you sagen müsstest. (Aber gut, immerhin hab ich so Gelegenheit, ein schönes Lied einzubetten.)

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Fakt 5: Geburt ist keine Show

Geburt ist keine Show, sondern ein extrem empfindlicher Vorgang. Eine Show ist per Definition eine Vorführung — sie braucht also Zuschauer*innen. Die sind für die meisten Geburten nicht förderlich; meist sind sie sogar hinderlich. Es geht nur wenigen Frauen so wie Hermine, der es nichts ausmachte, dass sie von Spaziergänger*innen beklatscht wurde.

Fakt 6: Der Kaiserschnitt ist eine OP, die einen Eingriff in den Körper darstellt

Der Kaiserschnitt kann Leben retten und ist deshalb ein Segen für all jene Frauen oder Kinder, die ihn brauchen. Und auch ein Wunschkaiserschnitt hat durchaus seine Berechtigung. Wie zum Beispiel Moni schreibt:

die primäre Sectio, wie man den geplanten Kaiserschnitt nennt, war im Vergleich zur sekundären Sectio super entspannt und für meine Bedürfnisse genau richtig gewählt!

Moni in ihrer Geburtsgeschichte

Der Kaiserschnitt an sich ist nicht das Problem. Genauso wenig das Wissen um Kernspaltung. Es kommt halt darauf an, was man damit macht.

Ist das Krankenhaus der sicherste Ort für eine Geburt?

Okay, so weit, so gut. Aus den vorgenannten Fakten schließt du, dass Geburt, ich zitiere, „schmerzhaft und manchmal gefährlich“ sei. Und im Insta-Video wird auch relativ schnell deutlich, dass für dich deshalb das Krankenhaus der sicherste Ort für die Geburt ist.

Bestimmt hast du eine Vermutung, was jetzt kommt: Eine glorreiche Verteidigung der Hausgeburt. Hm, nun ja. Ich wollte meine Kinder gern zu Hause zur Welt bringen. Aber ich glaube nicht, dass Hausgeburten das Allheilmittel sind.

Deshalb würde ich gern ein wenig anders an die Sache herangehen und nochmal ein paar Argumente von oben aufrollen.


Titelbild: Geburtsgeschichten-Adventskalender 2024: Sei dabei!

Auch in diesem Jahr gibt es einen Geburtsgeschichten-Adventskalender und ein paar Adventsverlosungen. Sei dabei!


Die Art als Ganzes hat überlebt

Große Tiere haben weniger Nachwuchs als kleine Tiere. Das gilt auch für uns Menschen: Wir sind verhältnismäßig groß und sind meist nur mit einem Fötus gleichzeitig schwanger. Alles andere sind statistische Ausnahmen. Wenig Nachwuchs also. Und dennoch hat die Spezies des Homo Sapiens Sapiens überlebt. Zahlenmäßig müssen also immerhin so viele Mütter und Kinder die Geburt überlebt haben, dass eine weitere Fortpflanzung möglich war.

(Okay, theoretisch reicht es auch, wenn der Säugling überlebt, denn er könnte von einer anderen Frau gestillt werden.)

Die Evolution hat also zumindest ihre „vier Minus“ erreicht.

Was ich jetzt schreibe, mag für manche Menschen herzlos klingen. So ist es nicht gemeint. Denn unabhängig von genetischer Veranlagung sollten Frauen gesund durch eine Geburt gehen können. Also, auch auf die Gefahr hin, dass mir jemand schreibt „ich wäre genau die gewesen, die gestorben wäre“:

Frauen mit extrem schmalen Becken oder Kinder mit extrem großen Köpfen sind in der Vergangenheit bei der Geburt oder an den Folgen gestorben. Überlebt haben diejenigen, bei denen der Kompromiss das richtige Maß gefunden hatte: Kopf nicht zu groß, Becken nicht zu eng. Es haben sich also in der Folge vor allem diejenigen fortgepflanzt, deren Genetik den Kompromiss optimal ausnutzte. Das galt in jeder Generation. Die Extreme hatten kaum Chancen, zu überleben — von Fortpflanzung mal ganz zu schweigen.

Erst in den letzten Jahrhunderten konnten andere Konstellationen medizinisch so betreut werden, dass Mutter und Kind überlebten.

Für das Individuum war das ohne medizinische Hilfe also im Zweifelsfall Scheiße. Denn für die genetische Disposition kann jemand nun mal Null Komma Nix. Und deshalb bin ich sehr dankbar, dass es für all diese Fälle mittlerweile Möglichkeiten gibt, die nicht von der Schwangerschaft auf direktem Weg zum Tod (oder auch nur einer extrem schmerzhaften Geburt) führen.

Wie viel Prozent an den Gesamtgeburten diese Menschen ausmachen, kann ich dir nicht sagen. Es funktioniert ja nicht, einfach die Müttersterblichkeitsrate von vor hundert Jahren zu nehmen, von dieser die heutige Müttersterblichkeit abzuziehen und dann zu sagen: Siehste, all diese Fälle sind genetische Randerscheinungen.

Exkurs: Müttersterblichkeit in Deutschland

Laut Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung lag die Müttersterblichkeit Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland bei zwischen 300 und 500 mütterlichen Sterbefällen pro 100.000 Lebendgeborene. Mittlerweile liegt sie bei 4 Sterbefällen pro 100.000 Lebendgeborenen.

Dank Creative Commons Lizenz darf ich die Grafik des BIB hier nutzen. Quelle: BiB, Stichwort Müttersterblichkeit, abgerufen am 20.4.2023

Weitere Infos gibt es hier.

Denn nicht alle Sterbefälle hatten was mit genetischen Faktoren wie schmalen Becken zu tun. Manche waren auch äußeren Umständen geschuldet, wie zum Beispiel Mangelernährung, körperlichen Strapazen oder mangelnder Hygiene.

All diese Aspekte konnten wir, vor allem seit Ende des 2. Weltkrieges, zum Glück in Deutschland minimieren. Ungünstigen genetischen Veranlagungen konnten wir dagegen nicht vorbeugen. Doch wir haben Wege gefunden, auch diesen Menschen zu helfen.

Ich meine es durchaus ernst, wenn ich sage: Die Geburtsmedizin ist in dieser Hinsicht weit gekommen! Und ich bin glücklich über jede Frau, die mithilfe dieser Medizin ihr Kind sicher zur Welt bringen konnte und kann.

Für das Überleben unserer Spezies ergibt sich nun eine recht spannende Entwicklung: Die genetischen Extreme können nicht nur überleben, sondern sich auch fortpflanzen. Damit steigen die Chancen, dass die entsprechenden Gene weitervererbt werden. Was meinst du, werden wir über kurz oder lang wie die Falabella-Ponys grundsätzlich auf Kaiserschnitte angewiesen sein?

Das sicherste Setting

Du machst in deiner Show deutlich, dass das Krankenhaus für dich der sicherste Ort zur Geburt ist. Und deine Begründung ist, dass im Notfall ein Kaiserschnitt innerhalb von 20 Minuten durchgeführt werden soll.

Was du nicht sagst, aber vermutlich meinst: Wenn man von zu Hause erst dann losfährt, ist die Zeit zu knapp und die Schwangere setzt damit sowohl sich als auch dem Baby einer Gefahr aus. Und, was du auch nicht sagst aber vermutlich meinst: Diese Gefahr ist doch wohl unnötig.

Und als Untermauerung deiner These führst du aus, dass die Gesellschaft für außermedizinische Geburtshilfe in ihrem Jahresbericht 2020 schreibt, dass rund jede siebte Hausgeburt dann doch verlegt wurde.

Ich hätte mich gefreut, wenn du auch noch die Statistik ein paar Seiten weiter im Bericht genannt hättest. Da steht dann: Von allen verlegten Geburten fanden 92,9 Prozent in Ruhe und 7,1 Prozent in Eile statt (Seite 36, Tabelle 40).

Bezogen auf die Grundmenge aller Frauen, die bei Geburtsbeginn die Hausgeburt anstrebten, sind das also nur noch 1,08 Prozent.

Die anderen Verlegungen fanden zu einem Zeitpunkt statt, an dem noch kein Notfall eingetreten ist. Man konnte in Ruhe verlegen. In diesem Fall folgte auf die Verlegung aller Wahrscheinlichkeit nach keine Notsectio, sondern die Inanspruchnahme anderer Mittel, zum Beispiel einer PDA. Eine Verlegung an sich ist also aus meiner Sicht nicht grundsätzlich ein Zeichen für Gefahr. Und — wie du schon gesagt hast — ganz bestimmt kein Versagen der Mutter.

Ja, das Krankenhaus kann Notfälle mit Mitteln behandeln, die zu Hause oder im Geburtshaus nicht zur Verfügung stehen. Doch wie schneidet das Krankenhaus bei der Betreuung der Gebärenden jenseits von Notfällen ab? Wie ist also die Betreuung für all diejenigen, die ihr Kind ohne Lebensgefahr zur Welt bringen?

Einzelpersonen, Initiativen, Fachpersonal und mittlerweile auch Teile der Politik machen immer wieder darauf aufmerksam, dass die Betreuungssituation in den Kliniken nicht optimal ist. Selbst wenn wir nicht von Gewalt in der Geburtshilfe sprechen, wirken der Personalmangel und der Fokus auf pathologische Geburtsverläufe nicht immer förderlich auf einen Geburtsverlauf.

Ich unterstelle dem handelnden Personal keine Absicht. Denn der Fehler liegt im System. Ein frühes Einschreiten ist juristisch sicherer und führt zu manch früher Intervention, sagt zum Beispiel Dr. Ute Taschner:

Es ist aus juristischer Sicht sicherer, wenn man interveniert. Abwarten ist dagegen rechtlich immer von Nachteil. Der Druck des Handelns ist unglaublich groß. Das ist ein großes Problem.

Dr. med. Ute Taschner im Interview auf Ich Gebäre

Ohne diese systemischen Änderungen durch die Politik und die Arbeitgeber*innen kann ein Krankenhaus gerade keine durchgehende Betreuung einer Gebärenden garantieren. Bei einer Hausgeburt liegt der Betreuungsschlüssel dagegen nicht nur 1:1, sondern je nach Länge der Geburt auch schon mal bei zwei Hebammen auf eine Gebärende. Was für ein Luxus — und was für ein Frühwarnsystem!

Stellen wir uns vor, dass all diese Aspekte im Krankenhaus erfüllt würden. Selbst dann gibt es immer noch Frauen, die Krankenhäuser meiden. Ich bin eine davon. Frag mich nicht, woher es kommt, dass ich schon in meiner Kindheit keine Krankenhäuser mochte. Mein Problem ist nicht die kranke Person, ich fühle mich schlicht an diesem Ort unwohl. So ging es mir in meinem Heimatort und später in jedem anderen Krankenhaus. Ich fange an zu schwitzen, mein Bauch krampft sich zusammen, meine Atmung wird schneller und flacher. Ich zähle die Sekunden, bis ich wieder gehen darf. Wer will, darf mich gern traumatisiert nennen und mir sagen: Arbeite das auf, dann hast du kein Problem mehr. Recht habt ihr. Bis das allerdings durch ist, steht fest: Mein Körper schaltet auf Fluchtmodus, sobald ich ein Krankenhaus betrete.

Und klar ist auch: Fluchtmodus und Geburt geht nicht zusammen. Aber logisch, dir als Chemikerin muss ich das mit dem Adrenalin und dem Oxytocin ja nicht erklären. Das kannst du selbst viel besser als ich mit meinem Laber-Studium. Also springe ich gleich zum Fazit: Geburt braucht Oxytocin, und das hat mein Körper zu Hause ausreichend produziert für problemlose Geburten — zumindest ab der Geburt meines zweiten Kindes.

Bei der Geburt unseres Großen fuhr ich nach einem langen Tag in den Wehen in die Klinik. Und bin sehr dankbar für die Hilfe, die ich dort bekam. Aber ganz ehrlich: Auch das war keine Verlegung in Eile, sondern einfach der nächste Schritt. Für #2 und #4 (dazwischen hatte ich eine Fehlgeburt, bei der das Krankenhaus gar nicht zur Debatte stand, weil sie so früh und — körperlich– unkompliziert war) blieb ich bewusst zu Hause, um die Sicherheit des gewohnten Umfelds zu haben. Das hat in meinem Fall wunderbar funktioniert. Ob die Geburten im Krankenhaus genauso unkompliziert gewesen wären, ist reine Spekulation.

Sprich: Das Krankenhaus kann der sicherste Ort für eine Geburt sein — besonders, wenn die Gebärende genau das empfindet und die Bedingungen im Krankenhaus eine verantwortungsvolle Betreuung wirklich sicherstellen können. Ich befürchte, dass gerade letzteres aktuell lange nicht der Normalfall ist. Und für mich ganz persönlich gilt: Meine Hormonausschüttung ist im Krankenhaus für’n Arsch. Ich wollte eine Betreuung, aber nicht auf Kosten meiner Gelassenheit.

Das letzte bisschen Sicherheit

Oben im blauen Kasten habe ich die Müttersterblichkeit in den Blick genommen. Mittlerweile liegt sie in Deutschland bei vier zu 100.000. Pro 100.000 lebendgeborene Kinder sterben in Deutschland auch heute noch vier Mütter unter der Geburt. Das klingt wenig, sind aber in absoluten Zahlen auf das Jahr 2020 gerechnet etwa 30 Mütter, die in Deutschland unter der Geburt starben.

Als Grundlage habe ich hier die Zahlen des Statistischen Bundesamtes genutzt, das für 2020 einen Wert von 773 144 Lebendgeborenen verzeichnet.

Im Qualitätsbericht für die außerklinische Geburtshilfe heißt es auf Seite 48:

Daten zum Wochenbettverlauf der Mutter wurden nicht erhoben, jedoch muss für 2020 festgestellt werden, dass eine Mutter im Zusammenhang mit der Geburt verstorben ist.

Seite 48, QUAG Jahresbericht 2020

Bei 16202 außerklinisch begonnen Geburten wäre das eine Quote von rund 0,00617 Prozent. Auf 100.000 Lebendgeborene bezogen würde das bedeuten, jede sechste Frau würde unter der Geburt sterben — und damit mehr als im klinischen Umfeld.

Allerdings wird diese Darstellung der Realität nicht gerecht, denn Todesfälle nach Hausgeburten sind so selten, dass in den meisten Jahren gar keine Fälle verzeichnet werden. Im Qualitätsbericht wird hervorgehoben, dass in den Jahren 2005 bis 2020 genau ein Todesfall verzeichnet wurde (bei 182884 Geburten). Das entspricht 0,00055 Prozent und würde bei einer Gesamtheit von 100.000 Lebendgeborenen bedeuten, dass die Müttersterblichkeit aufgerundet bei 1 Person pro 100.000 liegt.

Natürlich sind diese Zahlen insofern mit Vorsicht zu genießen, da Frauen mit auffälligen Schwangerschaften oft gar nicht erst außerklinisch gebären wollen (und keine Hebamme sie betreuen darf).

Mir geht es auch gar nicht so sehr darum, ob die Werte nun ein Promille höher oder niedriger liegen.

Im Gegenteil: Wir können selbst heutzutage rund um Geburten keine vollkommene Sicherheit erreichen. Ob nun klinisch oder außerklinisch: Selbst mit all unseren Mitteln, all unserem Wissen und all unserem Geld können wir nicht sicherstellen, dass eine Geburt mit einer lebenden Mutter und einem lebenden Kind endet.

Selbstbestimmung mit Verantwortung

Mir geht es in diesem Beitrag nicht darum, das Konzept der natürlichen Geburt in den Himmel zu heben. Ich setze mich für eine selbstbestimmte Geburtskultur ein, nicht für eine natürliche Geburt. Denn ich stimme dir vollkommen zu: Allein die Definition davon, was natürlich ist und was nicht (und dann nochmal der Unterschied zwischen „natürlich“ und „normal“, der im Alltag oft wegfällt) ist menschengemacht.

Also, lass uns nochmal kurz weggehen von der Frage, ob das heimische Wohnzimmer denn nun der richtige Ort für eine risikoarme Geburt ist oder nicht — denn eigentlich geht es ja eher um die Betreuung als um den Ort.

Lass uns hingehen zu der Frage, wer eigentlich genau diese Entscheidung trifft, was unter der Geburt (und schon davor, und auch danach) mit der Gebärenden und dem Baby passiert. Das Thema ist kaum in ein oder zwei Absätzen abzuhandeln. Ich habe hier auf dem Blog und in meinem Manifest schon darüber geschrieben. Deshalb hier nur kurz:

Ja, mit der Selbstbestimmung kommt die Verantwortung. Verantwortung, sich zu informieren und Verantwortung für die Folgen von Entscheidungen. Das Ding ist nur: Momentan lassen wir den Frauen oft gar keine andere Wahl, als die Verantwortung in der Klinik an das Personal dort abzugeben. Und das, obwohl doch nicht das Personal in der Klinik, sondern die Gebärende im Anschluss jeden Tag ihres Lebens mit den Konsequenzen der Entscheidungen leben muss.

Selbstbestimmung bedeutet: Die Gebärende entscheidet. So kann sie zum Beispiel auch entscheiden, dem Rat der Hebamme zu folgen. Sie müsste aber genauso das Recht haben, diesen Rat anzuhören und zu entscheiden, ihn nicht anzunehmen. Oft höre ich das Argument, dass doch spätestens bei Lebensgefahr der Ratschlag angenommen werden müsste. Es geht schließlich auch um das Kind.

Das hört sich für mich dann immer so an, als müsste man die Frau davon überzeugen, das Beste für ihr Kind zu wollen. Dabei will natürlich jede Gebärende (von ganz wenigen psychisch kranken Menschen abgesehen) das Beste für ihr Kind. Viel spannender ist doch die Frage, warum sie überzeugt ist, dass der vorgeschlagene Weg nicht passt!?

Den Weg in die außerklinische Geburt gehen viele Frauen aufgrund von persönlichen miesen Erfahrungen im Krankenhaus. Denn sie haben das Gefühl, dort eben nicht mitbestimmen zu können, was passiert. Und dann mit den Folgen alleingelassen zu werden. Der Trend (wenn es denn überhaupt einer ist) zur außerklinischen Geburt wird vor allem gefördert durch die Verhältnisse in den Kliniken. Das heißt aber nicht, dass die Frauen diese Entscheidung leichtfertig oder gar unvorbereitet treffen würden.

Vielfältige Menschen brauchen ein vielfältiges System

Als wir in der Schule über Adenin, Cytosin, Guanin und Uracil sprachen, erzählte uns unsere Biolehrerin unter anderem, dass das Vererbungssystem einige Sicherheitsschleifen eingebaut habe. Die Doppelhelix sei eine davon — und rezessive und dominante Gene eine andere. Ohne hier biologisch (und chemisch) ins Detail zu gehen, war ihre Quintessenz: Selbst wenn die dominanten Gene auch diejenigen sind, die in der Umwelt den größten Vorteil haben, wird es immer auch ein paar Individuen mit den rezessiven Genen geben. Denn wer weiß, vielleicht sind die irgendwann mal die Antwort auf die Änderung von Umweltbedingungen. Und dann hat die Art als ganzes größere Chancen, zu überleben, wenn es eben auch Individuen mit dieser Ausprägung gibt.

Die Art als Ganzes profitiert also von der Vielfalt ihrer Individuen.

Zurück zum Thema: Selbst wenn ein System für fast alle Personen passt, kann es eben doch sein, dass es nicht für alle passt. Und dann stellt sich die einfache Frage. Zwingen wir diese Menschen ins System?

Oder sind wir bereit, Auswahloptionen zur Verfügung zu stellen und die Vielfalt der menschlichen Erfahrung zuzulassen, obwohl uns diese Doppelstrukturen vielleicht nicht persönlich nutzen?

Die Frage, wer Vorschriften machen darf über einen gebärfähigen Körper ist uralt und hochpolitisch. Die „geht auf jeden Falls ins Krankenhaus“-Fraktion macht genauso Vorschriften wie die „schmier dir dein Menstruationsblut ins Gesicht“-Fraktion. Dabei sollten wir doch eigentlich jeder schwangeren Person zugestehen, sich zu informieren. Und dann zu entscheiden.

Lasst euch nicht verrückt machen

Liebe Mai Thi, in deinem Instagram-Video plädierst du dafür, dass sich die Schwangeren nicht verrückt machen lassen sollen von dieser Verklärung der natürlichen Geburt. Und ich stimme dir zu. Genauso wenig sollten sich die Frauen doch aber verrückt machen lassen, dass Geburten nur im direkten Umfeld eines Operationssaals sicher sein könnten.

Ich plädiere dafür, Frauen die Vielfalt von Geburt zu zeigen. Ja, es tut weh, zu hören, wenn ein Baby kurz nach der Geburt stirbt. Und doch ist es eine Erfahrung, die wir nicht verschweigen sollten.

Auf meinem Blog gibt es keine Triggerwarnungen. Der Grund ist einfach: Manche Leser*innen mögen sich von dem Interview zu Simons Tod getriggert fühlen. Andere dagegen fühlen sich von einer komplikationslosen Geburt getriggert, weil sie genau diese nicht erleben durften. Die Bandbreite ist groß. Ich gebe jeder Frau die Möglichkeit, ihre Geschichte hier zu veröffentlichen. Das hilft nicht nur dabei, zu merken, wie mannigfaltig Erfahrungen sein können.

Es hilft auch dabei, zu normalisieren, was wir bisher tabuisieren — und was auch in deiner Show und deinem Instagram-Video nicht vorkam:

Denn es gibt auch die „krassen“ Geburtserfahrungen am anderen Ende des Spektrums. Schmerzarm bis schmerzfrei. Vielleicht sogar orgasmisch. Frauen, die diese Art von Geburt erlebt haben, werden leider wissenschaftlich bisher komplett ausgeblendet. Sind die Frauen einfach krank, dass ihnen Geburt Spaß macht? Gibt es Merkmale, die statistisch signifikant die Wahrscheinlichkeit einer schmerzarmen und vielleicht sogar lustvollen Geburt begünstigen können? Das wären doch auch mal spannende Forschungsfelder.

Liebe Mai Thi, ich wünsche dir eine wunderbare Zeit mit deinem Baby und dass du die chemischen Prozesse innerhalb deines Körpers so optimal ausnutzen kannst, wie der Trial-and-Error-Prozess der Evolution es zulässt.

Und selbstverständlich würde ich mich über eine Antwort auf meinen Brief sehr freuen — falls du irgendwann das Gefühl hast, es passt gut in das Familienleben.

Herzliche Grüße,

Katharina

7 Gedanken zu „Reaktion auf MAITHINK X: Natürliche Geburt“

  1. Nice. Ich mag es, wenn die Frau die Verantwortung übernimmt und nicht, wie das brave Mutterschaf der Herde hinterhertrottet.
    Zum Thema „Krankenhaus“: wenn ich schwanger bin und ein Kind gebäre, bin ich nicht automatisch „krank“. Energetisch ist diese Thematik für mich wirklich schwierig. Ich habe mich schon lange gefragt, weshalb es kein Geburtshaus auf dem Klinikgelände gibt. Darüber darf gerne diskutiert werden. Ist aber nur so ein Gedanke, der in meiner Welt ganz viel Sinn ergibt.

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  2. So ein wichtiges Thema! Der Punkt mit der Intervention aus rechtlicher Sicht bringt auch aus meiner Erfahrung einen unglaublichen Druck auf die Schwangere. Bei meiner Zwillingsschwangerschaft erklärte mir meine Frauenärztin 3 Wochen vor dem errechneten Termin, ich solle doch in der Klinik einen Termin für einen geplanten Kaiserschnitt machen und die Kinder lieber jetzt schon holen lassen – obwohl alles vollkommen in Ordnung war! Auch, wenn ich das wusste, säen solche Aussagen unglaubliche Ängste und stellen die Mütter und Väter schnell als unverantwortlich dar, wenn man sich nicht an diese von reinem Sicherheitsdenken geprägten Empfehlungen hält. Auch, wenn das Krankenhaus diese Empfehlung nicht geteilt hat, wurde mir hier jedoch geraten, 2 Wochen vor ET einzuleiten. Auch hier wieder – keine Sicherheit, sondern mehr Unsicherheit für die werdenden Eltern. Daher: Eigenverantwortung und Vertrauen auf die natürlichen (Gebähr-)Fähigkeiten sind gerade in einer Zeit, in der so viele nicht auf ihre natürlichen Bedürfnisse Rücksicht nehmen, unglaublich wichtig. Danke für deinen Beitrag!

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  3. Ein Kind kam „normal“ (Natürlich natürlich), die andere Geburt war eine Katastrophe. Damals mussten wir Männer dem Zeitgeist folgend unbedingt dabei sein, – ich bin fast ohnmächtig geworden und wurde gebeten, besser draußen zu warten, als es immer schlimmer wurde.

    Das war kein Wunder der Menschwerdung, sondern ein blutiges, schmerzhaftes Gemetzel. Die Hausgeburt ging trotz zwei Hebammen voll daneben und ich war heilfroh, dass die Klinik nur zwei Krankenwagenminuten entfernt war, und dass dort das ganze Arsenal an Kompetenz und Medizin zur Verfügung stand.

    Schwangerschaft ist keine Krankheit, kann aber tödlich sein. War es früher auch häufig. Muss aber bitte nicht mehr so oft sein…kls…

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  4. Genau, der Natur ist es erstmal egal, ob ein Baby und/oder eine Mutter überlebt. Den meisten Menschen von heute wird das aber eher nicht egal sein. Hätte mir jemand noch eine gute Stunde vor meinem Not-KS gesagt, ich würde einen KS haben, hätte ich wohl gesagt: Ich doch nicht, ich wollte „natürlich“ / „normal“ gebären. Bis dann meine natürliche Plazenta meinte, sich auf natürliche Weise einfach mal abzulösen – ohne Grund, also eine Laune der Natur (Wortlaut meiner Frauenärztin)! Wäre ich nicht innerhalb kürzester Zeit in der Klinik gewesen und hätten die Ärzte nicht äußerst schnell mein Kind geholt, wäre das ein „natürlicher“ Tod gewesen, nämlich der meines Babys.

    Mir ist selbstverständlich bewusst, dass das nicht der Normalfall ist. Allerdings nervt mich der Hype um die Natürlichkeit bei Geburten und dass KS-Mütter sogar diskriminiert werden, egal was der Grund für ihren KS war. Warum es dann bei der Natürlichkeit aber bei vielen schon wieder vorbei ist, wenn das Kind z.B. Fieber hat (–> Fiebersenker und andere Medikamente – dabei ist Fieber doch auch natürlich?), wenn es Spielzeug bekommt (–> Plastik, Weichmacher etc.), allein daheim mit der Mutter hocken, manchmal bis sie 3 oder älter sind (–> der Mensch ist eigentlich ein Herdentier) oder wenn es als Schulkind dann sehr zuckerhaltige Getränke und Pommes frites futtert… Auch unsere Fortbewegung (–> Auto, zu wenig Schritte am Tag und Bewegungsmangel generell mit daraus resultierendem Übergewicht) ist häufig unnatürlich, beim Zahnarzt eine Betäubungsspritze zu bekommen (–> Schmerzen sind doch natürlich?), bei Kopfschmerzen eine Ibuprofen einzuwerfen… etc. Es gibt so viele Beispiele der Unnatürlichkeit in unserer modernen Welt, dass es schon fast lächerlich wirkt, wenn man die „natürliche“ Geburt so hypt.

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