Es ist gar nicht so einfach, unser feministisches Weltbild in der Praxis auch umzusetzen. Meine dreijährige Tochter ging vor kurzem mit pinken Leggings und lila Glitzeroberteil in die Kita. Mein absoluter Albtraum und der Inbegriff einer Mädchen-tragen-Rosa-Gesellschaft.
Dennoch habe ich sie selbstverständlich so gehen lassen. Sie hatte sich ihre Kleidung schließlich selber zusammengesucht.
In solchen Momenten frage ich mich dann, ob ich wirklich auf dem richtigen Weg bin, wenn ich für ein feministisches Weltbild eintrete. Was genau ich unter Feminismus verstehe, hatte ich schon mal erläutert.
In diesem Beitrag soll es nun um das Buch einer grandiosen Blogkollegin gehen: In ihrem Buch New Moms for Rebel Girls* gibt Susanne Mierau (du kennst sie bestimmt von Geborgen Wachsen) sowohl einen theoretisch fundierten Überblick über die Wirkungsweise des Patriarchats als auch über Gründe und Wege, unsere Töchter widerstandsfähig gegen die Auswirkungen einer patriarchalen Gesellschaft zu machen.
Das Buch ist der Hammer, und ich kann es jeder*m Leser*in wirklich nur empfehlen. In diesem Beitrag beschränke ich mich auf alles, was mit Geburt zu tun hat. Für alle anderen Themen – von Sexualität bis hin zu Nutzung sozialer Medien bei Jugendlichen – empfehle ich ganz klar: Lies das Buch!
Die ausführlichen bibliografischen Angaben findest du am Ende des Beitrags.
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Inhalt
1.) Sei aktiv!
Wenn wir nichts tun, wird sich nichts ändern. Falls du also meinst, dass nicht alles rund läuft im Geburtssystem in Deutschland, dann musst du dich engagieren.
Gerechtigkeit entsteht nicht durch Nichtstun
Susanne Mierau: New Moms for Rebel Girls, Seite 46
Natürlich ist das manchmal einfacher gesagt als getan. Susanne Mierau sieht durchaus, dass kurzfristige Erfolge eher nicht zu erwarten sind. Es braucht „Beharrlichkeit“ (S. 287), um Erfolge zu erzielen. Es wird auch Rückschläge geben. Und nicht jede von uns kann sich in gleichem Maße engagieren.
Natürlich haben wir Handlungsspielräume, aber sehr unterschiedliche, je nach Privilegien.
Susanne Mierau: New Moms for Rebel Girls, Seite 171
Wenn du im Geburtssystem arbeitest — als Hebamme, Ärzt*in, Stillberater*in, Pfleger*in, Psycholog*in oder Psychotherpeut*in, als Familienpfleger*in oder irgendwie anders, hast du natürlich ganz andere systemische Möglichkeiten — und auch Risiken! –, dich für Veränderungen stark zu machen, als wenn du dich als Elternteil in einem Verein engagierst oder Petitionen unterstützt.
Sei in der Art und Weise aktiv, die sich mit deinem restlichen Leben vereinbaren lässt. Und akzeptiere unterschiedliche Leistungsphasen.
„There’s an ebb and there’s a flow, and I will say that the older I get, I’m starting to believe that that is the natural order of things.“
Karen Walrond im Gespräch mit Brené Brown (Unlocking Us) — ausführlich schreibe ich darüber hier.
2.) Sieh das System!
Einzelfallbeobachtungen sind hilfreich, aber um auf Dauer etwas verändern zu können, müssen wir das System verändern. Und dafür müssen wir das System *sehen*. Wir müssen verstehen, wie es funktioniert und welche Mechanismen wirken. Diese Mechanismen wirken übrigens auch auf unsere Kinder: Sie lernen bereits in jungen Jahren, was als Standard angenommen wird und welche Verhaltensweisen oder Persönlichkeiten entsprechend eher am Rand der Aufmerksamkeit stehen (S. 51).
In dem auf zwei Geschlechtern basierenden System gilt das männliche Geschlecht als Norm und hat um sich selbst herum eine Gesellschaft und Kultur erschaffen, die die Bedürfnisse und die Stärke dieses Geschlechts unterstützt […].
Susanne Mierau: New Moms for Rebel Girls, Seite 53
Diese Art der „Normierung“ hat natürlich auch Einfluss rund um die Geburt:
- Welchen Geburtsort wählen wir und warum? In Deutschland ist die Frage für die meisten Frauen schnell beantwortet: Krankenhaus! Die Prozentzahl der außerklinischen Geburten liegt im einstelligen Bereich. Dabei gibt es auch Gründe für eine Hausgeburt. Wärest du in den Niederlanden groß geworden, wäre eine Hausgeburt vielleicht für dich die „Normalvariante“: Dort kommen dreißig Prozent der Kinder zu Hause zur Welt.
- Stillen wir oder nicht? In Deutschland stillen relativ viele Frauen zumindest eine Zeitlang. In anderen Ländern ist das dagegen ganz anders: In einer wissenschaftlichen Studie aus dem Jahr 2019 untersuchte Ana Isabel Rito, wie groß der Anteil der gestillten Kinder in verschiedenen Ländern war. In Irland wurden laut der Studie 46 % der Kinder nie gestillt; in Italien und Dänemark dagegen wurden nur etwas über 10% der Kinder nie gestillt. Was ist also der Normalfall?
- Spontangeburt oder (geplanter) Kaiserschnitt? Es gibt Kliniken in Deutschland, in denen kommen mehr Kinder durch einen Kaiserschnitt zur Welt als spontan. Wenn du eine solche Klinik der Nähe hast, ist dein „Normallfall“ vielleicht eine Kaisergeburt?
- Das Wochenbett und die Aufgabenverteilung: Gestaltest du dein Wochenbett ruhig und entspannt, oder bist du im Stress, weil die Nachbarn zum Kuchenessen kommen wollen? Was „normal“ ist im Wochenbett und was nicht, liegt ganz daran, wie wir seit unserer Kindheit damit konfrontiert wurden. Und auch bei der Aufgabenteilung danach sind wir keine unbeschriebenen Blätter. Adele erzählt zum Beispiel, dass ihr die unausgesprochenen Beziehungsstrukturen erst bewusst wurden, als sie eine Frau datete.
Susanne Mierau fasst das alles so zusammen:
Ja, wir sind frei und und individuell und haben die Wahl. In der Theorie. In der Praxis ist diese Freiheit ein kompliziertes Zusammenspiel aus Vergangenheit, Gegenwart, Gesellschaft, Neurobiologie, Epigenetik, Werten, Rollenerwartungen — und dies heute genau sowie schon in den vergangenen Generationen.
Susanne Mierau: New Moms for Rebel Girls, Seite 169
3.) Lass dich nicht auf die Gebärerin reduzieren und lehne die alleinige Versorgungskompetenz ab!
Du bringst das Kind zur Welt. Das bedeutet nicht, dass du die einzige Person bist, die die Grundbedürfnisse des Kindes erfüllen könnte. In der Vergangenheit wurden Frauen immer weiter auf die Rolle der Gebärerin beschränkt. Das ist eine spannende Entwicklung, denn vor ein paar tausend Jahren war es noch normal, dass eine Frau mit möglichst vielen Clanmitgliedern schlief, so dass möglichst viele Männer das Kind als „vielleicht meins“ ansahen und mitversorgten (S. 56f).
Das änderte sich im Laufe der Generationen: Monogamie und Nachwuchs in der Ehe wurde der offizielle Standard. Die Vaterschaft wurde an die Ehe geknüpft (S. 64). Und ab der Geburt hatte dann der Vater wesentlich mehr Macht über die Kinder als die Mutter.
Ich plädiere nicht dafür, dass wir wieder mit allen Clanmitgliedern schlafen sollten, um möglichst viele potentielle Väter zu haben. Auch Susanne Mierau formuliert das nicht als Ziel. In Zeiten von Vaterschaftstests ist das wohl auch kein gangbarer Weg — selbst, wenn er gewollt wäre.
Es geht vielmehr darum, dass du weißt: Die Versorgung des Babys allein durch die Mutter ist menschheitsgeschichtlich nicht immer der Standard gewesen. Die Reduzierung auf die Rolle der Gebärerinnen wurde Frauen erst im Laufe der Jahrtausende zugeschrieben (S. 56f). Damit einher ging die frühe Verheiratung von Mädchen zum alleinigen Zweck der Sicherung der Nachkommenschaft (S. 61).
In den letzten Jahrzehnten wurde dann die Rolle der Gebärerin ausgeweitet auf die Rolle der alleinigen Versorgerin. Im Alltag sollte die Mutter die Kinder versorgen – und zwar nach Maßgabe des Vaters. Dieser konnte sowohl Kinder als auch seine Ehefrau züchtigen, wenn etwas nicht nach seinem Wunsch lief (S. 62).
Aus feministischer Sicht sind also drei Aspekte hier wichtig:
- Bekomm Kinder, weil du sie willst – nicht, weil es die Gesellschaft, deine Religion, deine Familie, dein Ehemann oder dein Tageshoroskop so von dir erwarten.
- Durch die Geburt des Kindes bist du nicht auf die Rolle der Gebärerin eingeschränkt. Du hast weiterhin alle anderen selbstgewählten (und oktroyierten) Rollen. Es reicht nicht, zu sagen „ich habe nicht den Anspruch, alleinige Versorgerin zu sein“. Um aus dieser Rolle herauszukommen, musst du im Gegenteil sehr genau planen, welche Versorgungstätigkeiten du übernimmst und welche Arbeiten von anderen übernommen werden. Das wird für diese Menschen nicht unbedingt selbstverständlich sein – siehe Punkt 2.
- Sprich mit dem Vater der Kinder (so du weißt, wer es ist) über die Rolle, die er für sich will: Wie sieht er seine Vaterschaft und wie setzt er das im Alltag (nicht bloß am Wochenende!) um?
4.) Informiere dich!
„Oh, du warst beim Friseur“, fiel einem Freund vor einigen Jahren auf. „Der Pony steht dir. Jetzt hast du also Intelligenz gegen Attraktivität eingetauscht.“
Äh, wie bitte? Es ging nicht um mich, aber sowohl ich als auch die betroffene Freundin trauten unseren Ohren nicht. Natürlich lässt eine Frisur nicht auf Intelligenz schließen. Viel krasser fand ich aber noch den dahinterliegenden Ansatz: Entweder du bist hübsch, oder du bist intelligent.
Deshalb, noch mal ganz langsam und zum Mitschreiben:
Bildung wirkt weder der Attraktivität noch der Reproduktionsfähigkeit entgegen. (Ja, es gab Herren, die das behauptet haben. Der Biologe (!) Theodor von Bischoff ist so ein Mann. Er schrieb den Schrott 1887. Das sind gerade mal 135 Jahre. Siehe Seite 69 im Buch.)
Klar kannst du sagen „Frauen haben schon immer geboren; ich bekomme das auch hin.“ Und wenn das dein Weg ist, geh ihn. Für alle, die sich dagegen durch Fernsehen, Radio, Blogs, Bücher, Gespräche und anderes beeinflussen lassen, gilt: Wir sind seit vielen Jahren von einer bestimmten Anschauung über Geburt umgeben. Und deshalb sollten wir kritisch hinterfragen, was genau eigentlich davon stimmt, was nicht, und was nur unter bestimmten Umständen. Wir brauchen eine „Kompetenz im Umgang mit der Realität“ (S. 276) und müssen lernen, „mit Informationen, Fake News, Kommentaren und Drohungen“ umzugehen (S. 277).
Wir müssen wissen, wie unser Körper funktioniert […,]
Susanne Mierau: New Moms for Rebel Girls, Seite 292
Das Zitat bezieht sich im Buch auf Sexualität, nicht Geburt. Dennoch stimmt es auch in dieser Hinsicht: Wenn wir nicht wissen, wie unser Körper funktioniert, können wir nicht einschätzen, ob wir gerade richtig handeln.
Und deshalb schreibt sie:
In unserer eigenen Aufklärung liegt die Macht, bewusst mit den Themen umgehen zu können.
Susanne Mierau: New Moms for Rebel girls, Seite 262
Wissen zu erlangen war noch nie so einfach wie im Zeitalter von Wikipedia. Auch wissenschaftliche Quellen sind immer einfacher für alle Menschen einzusehen. Du brauchst dich nicht auf den ersten Eindruck zu verlassen. Du kannst Themen selber recherchieren.
5.) Sei dir deiner Macht bewusst!
Du denkst, Geburten könnten doch nun eine tolle feministische Bastion sein, weil ja immerhin Männer keine Kinder bekommen können?
Naja. Das System, in dem du dein Kind zur Welt bringst, ist eine Patriarchie — eine Väterherrschaft.
Bereits vor 2000 Jahren schreib Aristoteles, der Samen sei viel wichtiger als die passive Gebärmutter (S. 58).
Und auch die monotheistischen Weltreligionen trugen ihren Teil dazu bei, Geburten einen Stempel aufzudrücken:
Und zum Weibe sprach er: Ich will dir viel Schmerzen schaffen, wenn du schwanger wirst; du sollst mit Schmerzen Kinder gebären; und dein Verlangen soll nach deinem Manne sein, und er soll dein Herr sein.
Altes Testament der Bibel, 1. Buch Mose, Kapitel 3; Vers 16. Zitiert in der Version der Lutherbibel von 1912. Abgerufen auf Bibeltext.com.
Als die moderne Geburtshilfe entstand, war das Studium Frauen so gut wie unmöglich.
Also wandelte sich der Blick auf die Geburtshilfe: Von denjenigen, die selber Geburten erlebt hatten und ihr Wissen weitergaben (seit dem Mittelalter formalisiert als Hebammen) hin zu denjenigen, die das Wissen theoretisierten und, wie bereits beschrieben, der Meinung waren, zu viel Bildung behindere die Entwicklung der reproduktiven Organe.
Berühmte Frauenärztinnen
Je nach Quelle werden unterschiedliche Frauen als die ersten Frauenärztinnen in Deutschland bezeichnet.
Regina Josepha von Siebold und ihre Tochter Charlotte Heidenreich von Siebold praktizierten seit 1807 beziehungsweise 1817, nachdem sie zuvor mit Sondergenehmigungen studiert hatten.
Eine der berühmtesten wenigen Frauenärztin der Weimarer Republik war Hermine Heusler-Edenhuizen, die ab 1909 Patientinnen empfing.
Sogar die Geburten rutschten also in den männlichen Einflussbereich. Die Rolle der Frau wurde klein geredet.
Und auch nach der Geburt standen Frauen und Kinder über Generationen hinweg unter der Herrschaft des Ehemanns. Da kannst du schon mal leicht vergessen, dass die Macht, Leben auf die Welt zu bringen, bei dir liegt!
Nochmal ganz klar: Du gebierst dein Kind – mit derjenigen Hilfe, die du willst. Aber da du die Folgen trägst, bist du auch diejenige, die entscheidet, was passiert. Natürlich darfst du Hilfe annehmen – gut geschultes Fachpersonal kann Leben retten! Ob du die Hilfe aber als nötig ansiehst oder nicht, bleibt deine Entscheidung.
6.) Finde Worte für das, was passiert!
Wenn du nicht weißt, wie du ausdrücken sollst, was du empfindest, kannst du es kaum ändern. Das fängt schon bei der Beschreibung der weiblichen Körperteile an. „Scham“ ist doch wohl ein beschissenes Wort für die weiblichen Geschlechtsorgane. („Nutze ich nicht“, sagst du. „Schamlippen“, antworte ich.)
Auch in Bezug auf die Geburt ist es wichtig, dass wir uns ausdrücken können.
Dafür brauchen wir zum einen Wissen, um Sachlagen, Vorgänge und Medikamente korrekt benennen zu können.
Zum anderen brauchen wir die Fähigkeit, jenseits des Fachwissens unsere Erfahrungen zu beschreiben und in einen Kontext zu legen. Ich merke immer wieder, wenn ich Geburtsgeschichten aufschreibe, dass meinen Kundinnen die Worte fehlen. Sie wissen nicht, wie sie das Erlebte beschreiben sollen – meist, weil sie nicht einordnen können, ob ihre Empfindungen „normal“ sind. Vielen wurden ihre Empfindungen abgesprochen oder klein geredet. Gaslighting nennt sich das:
Dabei wird eine Person durch (psychische) Manipulation dazu gebracht, ihre Erinnerungen, Erfahrungen und Gedanken infrage zu stellen, wodurch sich die Person nach und nach selbst infrage stellt und zunehmend verunsichert wird.
Susanne Mierau: New Moms for Rebel Girls, Seite 292
Kommt dir das bekannt vor? Viele Frauen erleben es, wenn sie von Gewalt unter der Geburt berichten. Aber auch bei anderen, „harmloseren“ Themen ist es wichtig, die eigene Wahrnehmung wertzuschätzen und nicht alles von anderen relativieren zu lassen.
Beispiele für Begriffe, die wir kennen sollten — egal, ob sie uns gefallen oder nicht:
- Gewalt unter der Geburt / Rights not Roses
- Maternal Gatekeeping
- Mental Load
- Care Gap
- Menstruation
- Yoni
- Inkontinenz
- Schwangerschaftsabbruchsinformationsverbot
7.) Heile schmerzhafte Erfahrungen
Wenn du dich nun also informiert hast und die passenden Worte kennst, kannst du deine Erfahrungen einordnen. Manchmal erkennst du erst im Vergleich mit anderen, dass dir etwas angetan wurde, dass du etwas gerne anders gemacht hättest. Oder manchmal erkennst du auch erst im Vergleich mit anderen, was bei dir eigentlich besonders gut gelaufen ist — aber so lange kein Standard ist.
Erfahrungen passieren nicht nur uns. Auch unsere Ahninnen machten ihre Erfahrungen — bis hin zu unseren Müttern.
In dem Moment, in dem wir geboren werden, kommen wir zu einer Mutter, die eine eigene Geschichte hat, die wiederum durch eine andere Geschichte — die Geschichte ihrer Mutter — geprägt wurde.
Susanne Mierau: New Moms for Rebel girls, Seite 128
Wenn wir Eltern werden, gelangen wir unweigerlich wieder bei uns selbst an, bei unserem eigenen Anfang. Und dann können wir die Geschichte wiederholen oder verändern.
Susanne Mierau: New Moms for Rebel Girls, Seite 155
So können wunderbare Erfahrungen von Liebe, Geborgenheit und Schutz unser Grundgerüst am Emotionen bilden. Es kann aber andererseits auch zu einer „transgenerationale[n] Weitergabe traumatischer Erfahrungen“ (S.129) kommen.
Mittlerweile ist wissenschaftlich erwiesen, dass Frauen mit unverarbeiteten Traumata häufiger komplizierte Geburten erleben (S. 166). Und das kann (aber muss nicht) zu regulatorischen Problemen führen (S. 150). Wenn du dich also auf die Geburt deines Kindes vorbereitest, stell dir offen die Frage, wo du noch Heilung erfahren darfst.
Heile die Erfahrungen, um selber gut genährt zu sein.
Susanne Mierau: New Moms for Rebel Girls, Seite 98
Vielleicht merkst du erst jetzt im Nachhinein, wo dir in der Vergangenheit Gewalt oder Unrecht angetan wurde (S. 90f). Oder vielleicht wurde auch deine persönliche Integrität verletzt (S.249) — obwohl dein Gegenüber das gar nicht so beabsichtigte?
Diese Aufarbeitung kann dazu führen, dass du deinen Eltern gegenüber sehr kritisch wirst. Einiges von dem Mist, den du mit dir herumträgst, haben sie dir vielleicht (unwissentlich?) „vererbt“.
Mir ist es wichtig, dieses Problem nicht als Konflikt zwischen den Generationen zu sehen. Denn: Wir können die eigene Mutter im Kontext ihrer Erziehung und ihrer Geschichte sehen. Auch deine Mutter ist ein Kind ihrer Zeit und hatte die Geschichte deiner Großmutter zu tragen. Du kannst deine Geschichte aufarbeiten und gleichzeitig deiner Mutter nicht böse sein, dass sie dir nicht nur gesunde Erinnerungen mitgeben konnte.
Wenn du überlegst, mit deiner Mutter über deine Geburt zu sprechen, empfehle ich dir meinen Artikel Tipps für Gespräche über Geburten mit der eigenen Mutter sprechen.
8.) Stell dich deinen Ängsten!
Statistisch ist erwiesen, dass Mütter stärker unter Ängsten leiden als andere Menschen (S.100). Klar kannst du das evolutionsbiologisch begründen, wenn du willst. Immerhin tragen Frauen die Kinder unter ihrem Herzen, bevor sie geboren werden.
Doch diese Ansicht kannst du auch hinterfragen. Denn nicht alle Ängste sind rational (S.101). Manche Ängste werden gefördert, weil sie bestimmte wirtschaftliche Interessen begünstigen. Manche Ängste sind uns aus früheren Generationen mitgegeben worden.
Wir können dem nachspüren, welche Glaubenssätze uns von anderen mitgegeben wurden, durch Worte, aber auch durch Handlungen, und welches Selbstbild wir aufgrund unserer Erfahrungen verinnerlicht haben. All dies hat uns und unser Bild davon, wie wir heute sind, geprägt.
Susanne Mierau: New Moms for Rebel Girls, Seite 176
Diese Glaubenssätze sind nicht grundsätzlich schlecht. Vielleicht wurde dir auch mitgegeben, dass du alles schaffen kannst. Oder dass du immer geliebt sein wirst.
Solche Glaubenssätze können dich stärken. Häufig allerdings werden uns Glaubenssätze mitgegeben, die uns selbst klein halten.
Wir sind umgeben von einem Netz aus Glaubenssätzen, die uns im Alltag und auch bei der Geburtsvorbereitung einschränken:
- „Regelschmerzen sind normal“ hat schon viel zu viele Frauen dazu gebracht, sich nicht mit ihren Schmerzen zu beschäftigen.
- „Eine Jungfrau ist mehr wert als eine Frau, die Sex hatte“ bringt Menschen dazu, sich wegen ihres Sexlebens anzufeinden.
- „Unter Schmerzen sollst du gebären“ – So ein Blödsinn. Hatten wir ja oben schon unter Punkt 5.
Es braucht Mut, sich diesen Glaubenssätzen zu stellen und die damit verbundenen Ängste anzuschauen, zu verstehen, und — im Optimalfall — loszulassen. Nicht alles wird dann automatisch einfacher — aber immerhin verstehen wir unsere Motivation besser.
9.) Stell dich auf andere Meinungen ein!
So viele Menschen sagen uns: „Geh deinen Weg.“ Aber häufig meinen sie damit: „Geh deinen Weg, solange er so nah an meinem ist, dass ich keinen Grund habe, darüber nachzudenken, warum du Dinge anders machst als ich.“
Gerade aber, wenn wir uns nicht mehr von unseren Ängsten leiten lassen, machen wir Dinge manchmal anders als die Menschen in unserem Umfeld.
Und das kann Stress auslösen (S. 104).
Susanne Mierau beschreibt in ihrem Buch, dass es deshalb zwei Eigenschaften gibt, die wir benötigen:
„Resilienz, um nicht verletzt zu werden, und gleichzeitig Stärke, um sich durchsetzen zu können.“
Susanne Mierau: New Moms for Rebel Girls, Seite 240
Zum Umgang mit einem kritischen Umfeld habe ich bei Sophie Mikosch im Blog Mütterimpulse schon mal ausführlich geschrieben: Vom Umgang mit einem kritischen Umfeld.
Rund um Geburten gibt es viele Fallstricke, die zu Meinungsverschiedenheiten führen können…
- Machst du die Vorsorge in einer gynäkologischen Praxis oder bei einer Hebamme?
- Wurde bei der Zeugung nachgeholfen, zum Beispiel mit künstlicher Befruchtung, Eizellen- oder Samenspende?
- Die wievielte Schwangerschaft ist das? „Reicht das nicht mal langsam?“
- Wie alt bist du?
- Wo möchtest du die Geburt erleben?
- Wie stehst du zu Schmerzmitteln unter der Geburt?
- Wünschst du dir einen Kaiserschnitt?
Manchmal scheint es einfacher, nachzugeben und mit der Masse zu schwimmen. Manchmal ist das auch genau der falsche Weg. Manchmal bringt ein Gespräch neue Erkenntnisse, die zu einer Meinungsänderung führen. Das ist legitim. Wichtig ist, dass du nicht aufgrund von äußerem Druck oder der gesellschaftlichen Stellung des Gegenübers zu einer bestimmten Haltung gezwungen wirst.
Erst durch das Nein haben wir auch einen freien Zugang dazu, Ja zu sagen, und auch dieses ist in Bezug auf die Selbstbestimmung wichtig. Wir müssen wissen, was wir wirklich wollen, was gut für uns ist.
Susanne Mierau: New Moms for Rebel Girls, Seite 260
10.) Zeig dem Perfektionismus den Mittelfinger!
Der Hang zum Perfektionismus wird in unserer Welt immer schlimmer. Das ist der Grund, warum ich nicht auf Instagram aktiv bin und meine Facebook-Seite verwaist. Ich habe keine Lust auf Perfektion.
Gerade, wenn du Verantwortung trägst für das Baby in deinem Bauch oder auf deinem Arm, sind die Ansprüche umso größer. Manche kommen von außen, manche setzt du dir selber.
Du willst die perfekte Geburt, damit dein Kind den besten Start ins Leben hat. Du willst immer die ausgeglichene, bindungsorientierte Mama sein. Du willst einfach immer und grundsätzlich liebevoll sein und du willst natürlich nichts tun, von dem du weißt, dass es schlecht ist für dein Kind.
Huh, das ist ganz schön harter Tobak.
Der Anspruch, die besten Entscheidungen für dein Baby zu treffen, ist gut. Diesen Anspruch darfst du ab jetzt mit einer gehörigen Portion Realismus ausleben:
Das Bindungssystem ist an das echte Leben angepasst, in dem Stimmungsqualität und Atmosphäre nicht nur geradlinig sind.
Susanne Mierau: New Moms for Rebel Girls, Seite 106
Also: Gräme dich nicht, wenn mal etwas suboptimal läuft. Manchmal liegt es auch einfach nur an den viel zu vielen Ansprüchen, die wir haben. (Das soll nicht heißen, dass du dich nicht auf eine wunderbare Geburt vorbereiten kannst. Geburtsvorbereitung ist sinnvoll, zum Beispiel mit Affirmationen. Aber wenn du halt mal kein Yoga machst, weil du zu erschöpft bist, wirst du deinem Kind dadurch nicht das Leben versauen.
11.) Kuschel!
Viele der hier angesprochenen Tipps benötigen Kraft, um sie umzusetzen. Da kommt dieser Hinweis hier vermutlich ganz gut an, denn er ist mit wenig Aufwand umzusetzen und tut dabei auch noch unglaublich gut:
Kuschel, und zwar so viel wie möglich! Mit deiner*m Partner*in, mit dem Baby, mit Geschwistern. Kuscheln ist evolutionsbiologisch extrem wichtig, um die Hormonbelastung des Körpers zu regulieren.
Eine Studie mit Müttern mit postpartaler Depression infolge von Traumatisierung konnte zeigen, dass vermehrtes Streicheln des Kindes die Folgen beim Kind abmildern konnte.
Susanne Mierau: New Moms for Rebel Girls, Seite 158
Zum Glück kommen wir heutzutage davon weg, Babys von ihren Müttern zu trennen. Vielleicht wird dir von deiner Elterngeneration erzählt, dass du in ein Babyzimmer im Krankenhaus gewandert bist. Und vielleicht musst du dich deshalb für lange Kuschelphasen rechtfertigen. Zum Glück kannst du dich dabei nicht nur auf dein Gefühl berufen, sondern auch auf die wissenschaftlichen Studien, die genau das befürworten.
12.) Löse dich von absoluten Ursache-Folge-Schemata!
Bestimmt hast du auch schon davon gehört, dass manche Frauen einen Ultraschall ablehnen, weil die negativen Folgen für das Kind die positiven Wirkungen übersteigen würden. Und jetzt denkst du dir, dass du deinem Baby eine gute Zukunft verbaut hast, weil du einen Ultraschall hattest. Ich möchte an dieser Stelle gern einen etwas längeren Absatz von Susanne Mierau zitieren, denn besser kann ich es nicht in eigene Worte fassen:
Die Pränatale Psychologie diskutiert zudem die Auswirkungen von Eingriffen während der Schwangerschaft wie Fruchtwasserentnahmen, Geburtskomplikationen und überlebten Abtreibungsversuchen auf die spätere psychische Entwicklung. Und auch wenn es durchaus wichtig ist, dass die Bedeutung guter Rahmenbedingungen für die Schwangerschaft und gute Geburtsumstände ohne Gewalt in den Blick unseres Bewusstseins und der Öffentlichkeit gelangen, besteht hierbei oft die Gefahr der Verabsolutierung des pränatalen Erlebens — und vor allem der Fehlinterpretation in Kombination mit der Bindungstheorie: Weil der Fötus im Uterus bestimmte Erfahrungen gemacht hat, die Stimme und den Geruch der Gebärenden nach der Geburt erkennt, bedeutet das nicht zwangsläufig, dass nur eine Versorgung durch diese bekannte Person zu einer guten Bindung führen wird.
Susanne Mierau: New Moms for Rebel Girls, Seite 166
Ich war wirklich sehr froh, als ich diesen Abschnitt las. Klar wusste ich das eigentlich auch schon, aber dennoch habe ich mich wegen absoluten Ursache-Wirkung-Schemata häufig schlecht gefühlt.
Zukünftig werde ich in diesen Fällen den Absatz hier lesen.
13.) Akzeptiere die Irrelevanz des Geschlechts!
Wenn du anderen von deiner Schwangerschaft erzählst, kommt bestimmt die Frage: „Wird es ein Junge oder ein Mädchen?“ Ich habe bereits darüber geschrieben, dass ich das Geschlecht des Babys nicht wissen will.
Und weißt du was: Auch dein Baby selbst kann nicht zwischen den Geschlechtern unterscheiden.
Babys werden noch nicht mit der Fähigkeit zur Geschlechtsunterscheidung geboren.
Susanne Mierau: New Moms for Rebel Girls, Seite 229
Ich persönlich finde des erleichternd — weil es mich darin bestärkt, das Babyzimmer nicht streichen zu müssen, das Baby nur in bestimmten Farben zu kleiden oder dem Baby bestimmte Verhaltensmuster geschlechtsspezifisch zuzuordnen.
14.) Akzeptiere den natürlichen Alterungsprozess des Körpers
Es ist Blödsinn, mit vierzig genauso aussehen zu wollen wie mit zwanzig. Denn natürlich zeigt unser Körper die Erlebnisse unseres Lebens.
Das soll nicht heißen, dass du mich mit Schmerzen abgeben musst, weil du ein Kind zur Welt gebracht hast und nun der Rücken leidet.
Die Entwicklung nach der Schwangerschaft sollte nicht ausschließlich darauf fokussiert sein, zu seinem „alten Körper“ zurückkommen zu müssen, sondern in einem gesunden Körper zu leben, der mit den Monaten der Schwangerschaft und Stillzeit einem natürlichen Alterungsprozess und zudem besonderen Beanspruchungen unterworfen ist.
Susanne Mierau: New Moms for Rebel Girls, Seite 252
Ich würde zu dieser Liste auch noch die Geburt hinzufügen, denn auch diese kann uns körperlich verändern. Damit meine ich nicht nur den Muskelkater, der uns danach an die Anstrengungen erinnert, sondern auch länger anhaltende Veränderungen wie zum Beispiel einen geschwächten Beckenboden. Es braucht einfach Zeit, den Beckenboden danach zu stärken.
Übrigens habe ich beim Schreiben dieses Artikels auch noch einen passenden Eintrag auf einem anderen lesenswerten (nicht geburtsrelevanten) Blog gefunden:
None of these changes are failures. They’re simply steps in the journey.
Seth Godin: Re-calibrating
We change. That’s part of the deal.
A well-lived life without calibration is unlikely.
Also: Lass dir nicht einreden, Inkontinenz nach der Geburt sei über Monate hinweg normal. Strebe aber auch nicht nach dem Körper, der lange vergangen ist — ohne zu berücksichtigen, was dein Körper gerade jetzt braucht!
15.) Du bist nicht allein
Vielleicht fühlst du dich jetzt überwältigt von all diesen Punkten. Oh Mensch, feministische Geburten sind doch echt viel Arbeit, denkst du dir? So viel zu reflektieren, so viel Widerspruch von allen möglichen Seiten, so viel Verantwortung… Ja, das ist so; und ich will es nicht schönreden.
Mit der Möglichkeit, selbst zu entscheiden, kommt auch die Verantwortung, eine Entscheidung zu treffen. Manchmal erscheint es einfacher, die Entscheidung anderen zu überlassen. Auf Dauer ist das keine sinnvolle Lösung.
Vielleicht stärkt es dich, dass du nicht allein bist.
Wir können begreifen, dass hinter einem sprachlich bisher nicht ausgedrückten Empfinden ein Problem steht, das auch andere teilen und das nicht so einmalig ist, wie wir vielleicht denken.
Susanne Mierau: New Moms for Rebel Girls, Seite 290
Fazit
New Moms for Rebel Gilrs ist nicht immer einfach zu lesen. Denn es schon beim Lesen kommen automatisch Erinnerungen an Erlebtes hoch: Wir alle kennen Situationen, in denen wir mies behandelt wurden, oder in denen wir andere mies behandelt haben. Es ist nicht nett, darauf gestoßen zu werden.
Andererseits tut das Buch auch unglaublich gut. Aus dem diffusen Gefühl, dass hier was nicht richtig läuft, werden präzise Formulierungen, die es einfacher machen, bestimmte Sachverhalte einzuordnen.
New Moms for Rebel Girls ist wunderbar flüssig geschrieben und an manchen stellen muste ich sogar lächeln, weil ich mich ertappt fand ohder schon vorausahnen konnte, welches Thema als nächsts anstehen würde.
Die zusammengestellten Tipps gelten natürlich nicht nur für Geburten. Und das Buch widmet sich andererseits auch zu Recht noch vielen anderen Themen. Deshalb lege ich dir wärmstens ans Herz, New Moms for Rebel Girls zu lesen — selbst, wenn du selbst keine Kinder hast oder deine Kinder alle einen Penis haben. Denn ganz ehrlich: Auch wir selber sind doch irgendwie diese Rebel Girls, und es hilft, zu verstehen, wie unsere Mütter eben Mütter ihrer Zeit waren und sind.
Das Buch
Die vollständigen bibliografischen Angaben zum Buch lauten:
Mierau, Susanne: New Moms for Rebel Girls. Unsere Töchter für ein gleichberechtigtes Leben stärken. Beltz-Verlag, Weinheim, 2022.
1 Gedanke zu „Susanne Mieraus 15 Tipps für eine feministische Geburt(svorbereitung)“