Julia: Selbstbestimmte Geburt mit Einleitung

Heute ist Tag 9 im Geburtsgeschichten-Adventskalender. Julia hat gestern schon von ihrer wunderbaren Geburt im Krankenhaus berichtet; heute erzählt sie davon, wie ihr zweites Kind zur Welt kam. Die Bilder sind von Julia und dürfen nur mit ihrer schriftlichen Zustimmung verwendet werden.

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Um denjenigen gerecht zu werden, die sich mit den Worten „Frau“ oder „Mutter“ nicht identifizieren können, obwohl in ihrer Geburtsurkunde „weiblich“ steht, habe ich mich dazu entschlossen, in meinen eigenen Beiträgen „Mutter“ und „Frau“ jeweils mit dem Inklusionssternchen zu versehen. Ihr werdet also Frau* oder Mutter* lesen (falls der Text von mir kommt und nicht von anderen Menschen). Geschlechtergerechte und inklusive Sprache ist mir ein Herzensthema, allerdings ist (meine persönliche und die gesellschaftliche) Entwicklung dazu noch lange nicht abgeschlossen. Mal sehen, wie ich es in Zukunft angehe. Mehr zum Thema liest du unter anderem hier: Sollte ein Geburtsblog geschlechtsneutral sein, Gebären wie eine Feministin und Sex, Gender, Geburten und die deutsche Sprache.

Alle Adventskalender-Geschichten 2024

Alle Geschichten des Adventskalenders erscheinen nach und nach hier im Blog. Ob ich wirklich alle Tage füllen kann, weiß ich noch nicht. Einen Überblick erhältst du hier (und nach und nach funktionieren auch die Links.) Alle Geschichten aus den vergangenen Jahren findest du hier.

Selbstbestimmte Geburt mit Einleitung

Schon seit 5 Wochen hatte ich regelmäßig starke Vorwehen und war mittlerweile einfach nur genervt. Ständig dieses Gefühl „Vielleicht wird daraus was. Bald haben wir unser Baby im Arm“. Alle sagten, dass auch das zweite Kind tendenziell früher kommt, doch wir warteten und warteten. Bei einem ersten Fehlalarm drei Wochen vor Termin lernten wir schon mal das neue Krankenhaus kennen und fühlten uns gut aufgehoben. Der Test mit der Übergabe des großen Sohnes an die Oma mitten in der Nacht hat gut funktioniert. Wir waren top vorbereitet. Doch die bereit gelegte Bettwäsche sollte unbenutzt bleiben. Alle Einsatzpläne blieben gut ausgearbeitete Theorie.

Der Bikini passt immer

Ausgerüstet mit Bikini, Sommerkleid, Ventiltor, kaltem Fußbad und einem nassen Handtuch auf der Stirn genoss ich die letzten Tage der Schwangerschaft bei über 30 Grad im Dachgeschoss. Während mir der Schweiß in Bächen über den Rücken floss, freute ich mich darüber, dass ich keine Kleiderprobleme mit dem wachsenden Bauch hatte. Der Bikini passt immer.

Schließlich stand der Geburtstermin vor der Tür und es passierte: Nichts. Meine Angst vor einer Einleitung und vor einer erzwungenen oder unnatürlichen Geburt vergrößerte sich. Schließlich hörte ich nur Gruselgeschichten von einer Geburt mit Einleitung. Wahrscheinlich hätte ich den Satz „Don’t google with a Kugel“ mehr beherzigen sollen.

Die gesamte Schwangerschaft habe ich fleißig meine Beinmuskeln trainiert. Ich schlug mich um das Ausräumen der Spülmaschine, damit ich oft eine tiefe Kniebeuge machen konnte. Und auch die Dinge, die mein Mann und mein Sohn auf den Boden schmissen, nervten mich zwar sehr, hatten jedoch einen großen Trainingseffekt. Das sollte alles nicht umsonst sein! Wer trainiert schon gerne für einen Marathon und lässt sich dann doch ins Ziel fahren?

Der tägliche Besuch im Krankenhaus

Doch es half nichts, ich musste mich im Krankenhaus vorstellen. Glücklicherweise waren alle Werte des Babys und auch meine Fitness so gut, dass wir besprachen zu warten. So durften wir alle drei Tage zur Kontrolle und vertrieben uns die langen CTGs damit, Karten zu spielen, Finanzpläne zu schmieden, über die anstehende Landtagswahl zu diskutieren und Wäschezettel von Unterwäsche abzutrennen. Was man eben so tut… Mein Mann und ich hatten also nochmal viel Zeit für uns allein.

Nebenbei lernten wir alle Hebammen des Krankenhauses kennen und konnten uns nicht entscheiden, welche wir netter fanden. Wir wurden schon begrüßt mit „Na, Sie gehören hier ja auch schon zum Inventar“. Ich hatte mich schon damit abgefunden, für immer schwanger zu sein und dass der Alltag jetzt so aussieht. Es gibt Schlimmeres. Bekommt man dann eigentlich auch lebenslang das volle Mutterschaftsgeld oder reduziert sich das irgendwann? Vielleicht ist das auch wie beim Arbeitsamt, wo man Maßnahmen zur Beendigung des Zustandes nachweisen muss. Ich habe so ziemlich alles ausprobiert von Nelkentampons über Globuli, Chili, Ingwer, Himbeerblättertee, Eipollösung, etc. Selbst das Salsatanzen mit meinem Mann hat unser Baby nicht nach draußen bewegt. Ich nahm mir die anfänglich sehr kritische Haltung gegenüber geburtsauslösenden Mitteln, indem ich mir ein Lagerfeuer vorstellte. Wenn das Feuer sich nicht alleine entzündet, versucht man erst mit Hölzern, dann mit Feuerstein Funken auszulösen, die dann das Feuer von alleine entfachen. Doch das hilft alles nichts, wenn das Holz noch nass ist.


Lies hier weiter:

Titelbild: Buchrezension: In guten Händen von Nora Imlau (Teil 1/9)

10 Tage nach dem errechneten Geburtstermin

Schließlich rückte Tag 10 nach Geburtstermin heran und es passierte: nichts. Mami und Baby waren weiterhin topfit. Da ich gut nachvollziehen kann, dass man nicht gerne aus einem gut gewärmten Whirlpool rausgeschmissen wird, wollten wir dem kleinen Fratz so lange wie möglich die Chance geben, allein heraus zu kommen. Doch scheinbar hat er uns nicht geglaubt, dass wir das warme Handtuch schon bereithalten.

Zum Glück haben wir uns diesmal für ein anderes Krankenhaus entschieden, in dem unsere Entscheidung unterstützt und uns kein Druck gemacht wurde. Unsere eigene Hebamme unterstützte das ebenfalls. Ab dann ging es allerdings täglich zur Kontrolle. Man kann sich gut vorstellen, dass es uns sehr schwer fiel, unsere auf 33 Grad erhitzte Wohnung ein paar Stunden für das klimatisierte Krankenhaus zu verlassen, um dort den Schlaf nachzuholen, den wir nachts durch die Hitze nicht bekamen.

14 Tage nach dem errechneten Geburtstermin

Tag 14 nach Geburtstermin. Unser Baby hatte alle Chancen und wir taten alles, um die Wehen auszulösen. Doch es passierte: nichts. Der Muttermund war immer noch nicht kurz genug und nur ein wenig geöffnet. Also bekam ich eine Dosis Prostaglandin, die noch keine Wehen auslöste, aber den Muttermund geburtsreif machen sollte. Der Tunnel war quasi noch zu lang und zu eng und wurde damit weicher und kleiner gemacht – zu einem Fenster. Dann 40 min CTG, 4 Std warten und dann nochmal dasselbe Spiel. Wehen wurde dadurch aber nicht ausgelöst.

Glücklicherweise erwies sich meine Angst vor einer künstlichen Einleitung als unbegründet.  Die gruseligen Geburtsgeschichten beginnen gefühlt alle mit dem Satz „und es musste eingeleitet werden“. Doch über die Hintergründe und genauen Umstände wird selten gesprochen. Also nutzte ich die letzten 14 Tage mit Hilfe meiner wundervollen Hebamme und dem Krankenhauspersonal, meine Angst abzubauen, mehr Kontrolle an meinen Körper abzugeben und auf meine eigenen Fähigkeiten und vor Allem die des Krankenhauspersonals zu vertrauen.

Einen Tag Urlaub

Der Tag der Tage war für meinen Mann und mich der entspannteste Tag seit Langem. Diese absolute Ruhe waren wir mit unserem Wirbelwind nicht mehr gewohnt. Außerdem gab es nichts zu tun, außer im Moment zu sein und auf unser zweites Wunder zu warten. Alle Finanzgespräche und politischen Dinge waren ausdiskutiert in den zwei Wochen regelmäßiger Krankenhausbesuche. Alle Socken gestopft. Der kleine Frechdachs war versorgt und es gab keine Termine einzuhalten oder Menschen zu informieren.

Es blieben also nur ein paar Brettspiele, die Ruhe des Krankenhauses, viele Nickerchen und die Zeit zu zweit zu genießen. Die Klimaanlage im Krankenhaus war bei 36 Grad Außentemperatur ebenfalls nicht zu verachten. Mit Bikini und Sommerkleidchen gerüstet haben wir uns also einen entspannten Tag gemacht und schon fast ein bisschen Strand in der Nase gehabt. Gefehlt hat nur noch, dass die Hebamme einen Cocktail mit diesen kleinen niedlichen Schirmchen zum CTG reicht.

Nach der zweiten Prostaglandin-Gabe passierte immer noch nichts und mein Mann fuhr zum Abendbrot nach Hause. Ich aß gemütlich und duschte, um mich dann ins Bett zu kuscheln und ein Buch zu lesen. Das letzte Nickerchen war schließlich schon vier oder fünf Stunden her. Also schrieb ich den beiden Omis, dass heute nichts passieren würde.

21:30 Uhr

Dann kam dieses Ziehen und ich konnte zwischendurch nicht mehr lesen. Wird auch mein zweites Kind mich um meinen nächtlichen Schlaf bringen? „Na gut“, denke ich „du kannst ja mal anfangen den Wehentimer zu benutzen. Es verflüchtigt sich wahrscheinlich eh wieder, so wie die Wochen zuvor. Aber falls sie morgen fragen. Und immerhin habe ich die App ja schon installiert.“

Ich schrieb dann auch gleich meinem Mann, dass ich leichte Wehen hätte. Er könnte sich ja mal duschen und Zähne putzen. Kurz darauf lief ich entspannt bei Schummerlicht durch mein Einzelzimmer und ging bei den Wehen in die Knie, dann in den Vierfüßlerstand und schließlich in die tiefe Hocke und tönte mein tiefes Uh, das sich schon bei der ersten Geburt bewährte. Da ich immer die Stellung fand, in der die leichten Schmerzen gelindert wurden, kam mir das eher wie eine Yogastunde als der Beginn einer Geburt vor. Es war vom Schmerzlevel noch so weit von dem entfernt, was ich beim ersten Kind als starke Wehen bezeichnet hatte. Damit mir nicht zu langweilig beim Schummerlicht wurde, schaltete ich die Musikbox mit meiner Badewannenplaylist ein. Meine kitschigsten Lieblingsliebeslieder trugen mich auf eine rosa Wolke in eine melancholische Stimmung.

Die Fruchtblase ist geplatzt

Dann kam wieder eine Wehe, in der ich tief hockend mit den Händen nach oben am Bettgeländer verbrachte. Plötzlich ergoss sich ein Schwall warmes Wasser aus mir und ich konnte nicht anders als erleichtert und tief zu Stöhnen. Es war vergleichbar mit diesem Gefühl, wenn man unheimlich dringend auf Toilette muss. In diesem Moment fühlt man sich zwar erleichtert, sobald man auf Toilette ist, jedoch muss man immer noch die Geduld aufbringen, bis die Blase leer ist. Hier war es so, als könnte man die gesamte Flüssigkeit auf einmal loswerden. Der Blasensprung war auch ganz anders als bei der ersten Geburt, in der das Fruchtwasser tröpfchenweise herauskam und ich nicht sicher war, ob es Fruchtwasser war oder ich plötzlich doch noch inkontinent geworden bin. Diese Fruchtblase jetzt war eindeutig geplatzt. Das Fernsehen hat seine Glaubwürdigkeit als Bildungsvermittler ein kleines Stückchen zurückgewonnen.

22 Uhr

Von Glücksgefühlen übermannt, die von dieser großen Erleichterung ausgelöst wurden, rasten die Gedanken durch meinen Kopf. So ein Mist, ich habe doch gerade erst eine neue Unterhose angezogen. Wo hänge ich die denn jetzt hin so klitschnass? Lohnt es sich überhaupt jetzt noch eine frische Unterhose anzuziehen? Wie viele Unterhosen habe ich eigentlich eingepackt?

Dann rief ich meinen Mann an: „Schmeiß die Zahnbürste weg und komm‘ sofort her“. Er war schon unterwegs. Er hatte so ein Gefühl… uuuhhhh – die nächste Wehe.

Irgendjemand sollte die Sauerei auf dem Fußboden mal wegwischen. Wo ist denn hier das Putzzeug? Uuhhh – keins gefunden – vielleicht sollte ich mal die Krankenschwester fragen – uuhh – die Schwester kommt und sagt, sie ruft jetzt mal im Kreißsaal an, dass wir bald kommen. Putzzeug gibt sie mir komischerweise nicht. – uuhhh  – ach ja, da war ja was. Ich renne immer noch entspannt durch den Raum und ziehe mein Fitnessprogramm durch. Doch vielleicht sollte ich wirklich mal in den Kreißsaal. – uuuhhh – Im Hintergrund sang Train „forever could never be long enough for me, to feel that I have long enough with you“, unser Hochzeitslied. – uuuhhh – Ach nein, ich muss keinen Stress machen. Welche Geburt dauert schon weniger als 4 Stunden?

22:30 Uhr

Mein Mann ist da. Wir packen entspannt die Sachen, schnappen uns Colbie Callait, Jason Mraz und Co. aus der Musikbox und begeben uns gemütlich in den Kreißsaal. So laufen wir über die Empore von der Station zum Kreißsaal und zwischendurch schaukele ich in der tiefen Hocke, gehalten von seinen Armen, wie ein kleines Äffchen und töne wie ein Wal. In der Notaufnahme unter uns ist man verwundert von den Geräuschen und wir lachen noch darüber. Zwischendurch reden wir munter und machen Scherze. Dass der Sitz unseres nagelneuen Autos komplett hinüber gewesen wäre durch den Blasensprung. Was er zum Abendbrot gegessen hat. Und wetten, wie weit ich es den Gang entlang bis zur nächsten Wehe schaffe.

23 Uhr

Endlich im Kreißsaal angekommen, richten wir uns ein und begrüßen die Hebamme, der wir ein paar Stunden zuvor noch eine schöne Nachtschicht gewünscht haben. „Wir sehen uns bestimmt nicht heute Nacht“, waren unsere letzten Worte.

Noch mal auf Toilette, die Brille an meinen Mann abgegeben und dann ans CTG. Diesmal wollte ich das CTG komplett ignorieren und keinen Stress haben. Nur ich, mein Baby, mein Körper und mein geliebter Mann. Und endlich wieder die Liebeslieder an, die man so schön auf seine Kinder uminterpretieren kann. Ich lausche Ed Sheeran „People fall in love for mysterious ways. Maybe just a touch of a hand. Baby, take me into your loving arms. We found love right where we are.“ Ach, bald habe ich mein Baby im Arm. Vielleicht schon bei Sonnenaufgang.

Lass schon mal das Wasser ein

Wir melden noch schnell an, dass wir gerne in den anderen Kreißsaal mit der Gebärwanne wollen. Offensichtlich scheint unser Baby warmes Wasser schließlich zu mögen. Während sich drüben die Badewanne mit Wasser füllt, leert sich das Wasser aus meinem Bauch mit jeder Wehe schwungartig und zaubert mir ein seliges Lächeln ins Gesicht. Diesmal hält mich das Tuch von der Decke und ich schaukele weiter tiefenentspannt vor mich hin, nutze jede Wehe, freue mich darauf und bin hochkonzentriert. Zwischendurch kann ich wieder quatschen und darüber nachdenken, welcher arme Mensch hier saubermacht. Hebammen sollten wirklich mehr Geld bekommen.

23:40 Uhr

„Gehen Sie mal schnell rüber in die Badewanne, damit wir es noch vor der Geburt schaffen“, sagt die Hebamme. „Ja, ja“, denken wir, „3 Stunden brauchen wir nun wirklich nicht rüber in den anderen Kreißsaal. So langsam sind wir nun auch wieder nicht.“

Dazwischen kommt noch eine sehr starke Wehe und ich finde mich mit der Türklinke in der Hand in der tiefen Hocke wieder. Vor dem Kreißsaal. Flatsch, wieder ein Schwall Wasser, direkt vor der Tür. Doch die Hebamme lacht nur. In diesem Moment denke ich an meinem Yogakurs und wie die Yogalehrerin uns diese Stellung empfohlen hat. Das gibt mir noch mehr Kraft. Ich denke noch an die Pose der Löwin „bääh“, die so lächerlich mit der ausgestreckten Zunge aussieht, und laufe dann, so leichtfüßig wie ich kann, zur Badewanne. Nach der Wehe brauche ich jetzt echt eine Pause und ich freue mich wie ein kleines Kind aufs Baden. Vergeblich suche ich ein Quietscheentchen, aber das verdirbt mir die gute Laune nicht. Das war eine gute Erwärmung, denken wir. Jetzt können wir uns hier gemütlich einrichten und die nächsten 3 bis 5 Stunden zur Geburt hier verbringen.

Ist es das jetzt schon?

Das warme Badewasser entspannte meine Haut noch mehr und ich genoss das Streicheln meines Mannes. Seine Berührungen haben die Schmerzen auf zauberhafte Weise verschwinden lassen. Plötzlich begannen die Presswehen und ich konnte nicht mehr tönen. Auf allen Vieren mit dem Kopf aus der Wanne und den Händen am Tuch, stöhnte ich erstmal laut auf. Können das schon die Presswehen sein? Das letzte Mal tat es davor doch viel mehr weh! Außerdem hat es gerade erst begonnen! Wir sind gerade aufgewärmt. Ich will noch nicht aus der Badewanne!

Die Hebamme sagte „Sie können ruhig mitdrücken.“ Na gut, dann mache ich das ihr zu Liebe mal, denke ich. Aber das können ja noch nicht die Presswehen sein. Etwas halbherzig drückte ich und mein Mann fragte danach „Sind das schon die Presswehen?“ Man, war ich erleichtert über diese Frage. Mir selbst war es zu peinlich zu fragen. Schließlich konnte ich zwischendurch noch unbeirrt reden. „Ja, ich sehe schon das Köpfchen“ antwortet die Hebamme. Na gut, denke ich, dann presse ich jetzt mal richtig. Schwups, ist der Kopf raus. Dann nochmal tief ein- und ausatmen, sammeln, pressen und plötzlich ist Stille. „Sie können ihr Kind aus dem Wasser holen!“, höre ich die Hebamme, während ich Kraft sammle. Mit meiner geringen Sehkraft und ohne Brille sah ich plötzlich so scharf wie nie. Da schwamm das kleine Wunder tatsächlich unter mir hervor und ich durfte es in die Arme nehmen. Ich durfte mein Kind alleine den Weg vom Bauch in die Welt tragen. So muss es sich angefühlt haben, als Mufasa Simba der Tierwelt auf den Felsen gezeigt hat.

Der nun zweifache Papa schnitt die Nabelschnur durch, das Wasser wurde abgelassen und dann durfte das kleine Wunder erstmal mit Papi kuscheln. Währenddessen presste ich noch zwei Mal leicht und flatsch landete die Plazenta auf den Wannenboden. Eher nebenbei registrierte ich das und war doch ganz gebannt mit dem Blick bei meinem Mann und meinem zweiten Sohn.

Aus der Musikbox tönte „How long will I love you? As long as stars are above you. And longer if I can!“ von Ellie Golding. Der sorgfältig gepackte Rucksack lag halb geöffnet auf den Boden, das Snackpaket für 12 Stunden war unangetastet und wir schwebten auf Wolken, unser Baby bewundernd.

Die Bilanz

In zwei Kreißsälen, einem Flur und einem Patientenzimmer habe ich innerhalb von 2,5 Stunden für intensiven Reinigungsbedarf gesorgt. Mein Mann und ich waren total überrumpelt von dieser schnellen Geburt. „Du bist ja schon da. Oh man, ging das schnell. Da hast du uns so lange warten lassen und jetzt bist du plötzlich da. Es gibt dich ja wirklich! Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben!“ erzählten wir uns immer wieder.

Ich fühlte mich ein wenig wie eine Marathonläuferin, die lange trainiert hat, um dann die Abkürzung durch den Wald zum Ziel zu nehmen. Immerhin bin ich selbst gelaufen. Aber es war doch schneller vorbei als geplant. Da hielt ich mein Baby im Arm und war etwas irritiert, dass ich es schon im Arm hatte. Nach so langem Warten habe ich nicht damit gerechnet, dass überhaupt noch ein Baby aus meinem Bauch kommt. Das war so erstaunlich unerwartet im positivsten Sinne. Wie ein Gast, der ständig aus merkwürdigen Gründen den Besuch absagt. „Hab‘ ne Tante aus Marakko“… Als dann tatsächlich der Tag seines Besuches kommt, kommt er einfach eine Stunde zu früh! Dabei backt der Kuchen noch im Ofen und der Tisch ist noch nicht gedeckt! Aber da wir den Gast in unserem Leben schon so lange erwartet haben, überwiegt die Freude und es war ganz egal, dass der Tisch noch nicht gedeckt ist.

In der anderen Klinik wurde das Baby sofort auf den Arzttisch gelegt, angezogen und erst dann der Mutter übergeben. Hier durfte ich mein Baby sofort nackt auf meiner Haut spüren und es dann eine Stunde ungestört bei mir haben. Das war ein fantastisches Gefühl. Auch die Hebamme war diesmal nicht mein Feind, sondern hat mich mit ihrer Unterstützung getragen und Sicherheit gegeben. Darauf konnte ich mich bei all den Hebammen dieser Klinik verlassen, die ich in den zwei Wochen kennen gelernt habe. Ich konnte mich 100%-ig auf die Geburt einlassen und mich in jeder Wehe verlieren. Es fühlte sich diesmal weniger wie ein Sportsakt an als viel mehr wie ein Fallen lassen auf rosa Wolken – immer und immer wieder. Vielleicht war ich deshalb auch so verwirrt, dass es so schnell vorbei war. Aber das Glück überwog, auch die die zweite Geburt im Krankenhaus selbstbestimmt und positiv zu durchleben.

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Jule Weber

Jule Weber (*1993) lebt und arbeitet in Bochum und gehört zu den führenden Stimmen der deutschsprachigen Spoken-Word-Szene. Sie schreibt, seit sie schreiben kann, seit 2009 tourt sie mit ihren Texten im gesamten deutschsprachigen Raum und füllt die Bühnen und Räume mit präziser Sprache und einer sanften Atemlosigkeit.

Katharina Tolle

Wie schön, dass du hier bist! Ich bin Katharina und betreibe seit Januar 2018 diesen Blog zu den Themen Geburtskultur, selbstbestimmte Geburten, Geburtsvorbereitung und Feminismus.

Meine Leidenschaft ist das Aufschreiben von Geburtsgeschichten, denn ich bin davon überzeugt, dass jede Geschichte wertvoll ist. Ich helfe Familien dabei, ihre Geschichten zu verewigen.

Außerdem setze ich mich für eine selbstbestimmte und frauen*-zentrierte Geburtskultur ein. Wenn du Kontakt zu mir aufnehmen möchtest, schreib mir gern!

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