Willkommen zu Tag 2 des diesjährigen Geburtsgeschichten-Adventskalenders. Jule Weber wurde mit 17 Mutter. Und damit ist sie immer wieder Vorurteilen ausgesetzt. Menschen meinen, sich einmischen zu dürfen, was sie bei Frauen* die erst später Mütter* werden, nie in dieser Art tun würden. Über ihre Erfahrung hat Jule einen Text geschrieben, den sie auch auf Bühnen vorgetragen hat. Mit Jules Einverständnis darf ich sowohl den Text als auch das Video hier posten. Die Zwischenüberschriften sind von mir.
Als Service für dich verlinke ich in meinen Beiträgen Produkte oder Dienstleistungen. Manchmal sind das Affiliate-Links. Ich erhalte also eine Provision, ohne dass du mehr zahlst. Affiliate-Links sind mit einem Sternchen (*) gekennzeichnet.
Um denjenigen gerecht zu werden, die sich mit den Worten „Frau“ oder „Mutter“ nicht identifizieren können, obwohl in ihrer Geburtsurkunde „weiblich“ steht, habe ich mich dazu entschlossen, in meinen eigenen Beiträgen „Mutter“ und „Frau“ jeweils mit dem Inklusionssternchen zu versehen. Ihr werdet also Frau* oder Mutter* lesen (falls der Text von mir kommt und nicht von anderen Menschen). Geschlechtergerechte und inklusive Sprache ist mir ein Herzensthema, allerdings ist (meine persönliche und die gesellschaftliche) Entwicklung dazu noch lange nicht abgeschlossen. Mal sehen, wie ich es in Zukunft angehe. Mehr zum Thema liest du unter anderem hier: Sollte ein Geburtsblog geschlechtsneutral sein, Gebären wie eine Feministin und Sex, Gender, Geburten und die deutsche Sprache.
Alle Adventskalender-Geschichten 2024
Alle Geschichten des Adventskalenders erscheinen nach und nach hier im Blog. Ob ich wirklich alle Tage füllen kann, weiß ich noch nicht. Einen Überblick erhältst du hier (und nach und nach funktionieren auch die Links.) Alle Geschichten aus den vergangenen Jahren findest du hier.
Adventskalender 2024: Alle Geschichten
(bitte zum Lesen aufklappen)
- Anna: Selbstbestimmte Klinikgeburt
- Jule: Mutter mit 17
- Marisa: Hausgeburt mit Kerzenschein und Plazenta-Smoothie
- Anna: Alleingeburt in der Badewanne
- Corinna: Selbstbestimmte Geburt in der Klinik
- Marion: Die 48-Stunden-Spontangeburt
- Theresa: Geschichte eines Schwangerschaftsabbruchs
- Julia: Geburt vor Termin
- Julia: Selbstbestimmte Geburt mit Einleitung
- Claudia: Geburten einer Doula
- Mandy: Urvertrauen und eine leichte PDA
- Katharina: Das Osterhäschen
- Elisabeth: Hausgeburt mit Geschwisterkindern
- Tara: Vaginale Geburt nach zwei Kaiserschnitten
- Eileen: Hausgeburt mit halbvollem Pool
- Luise: Eingeleitete Geburt in England
- Julia: Geburten meiner Söhne
- Christine: Asthma in der Schwangerschaft
- Diana: Wassergeburt zu Hause
- Eileen: Friedvolle Geburt im Familienkreis
- Nadine: Der gut gelaunte OP-Arzt
- Eileen: Alleingeburt mit ausführlicher Vorbereitung
- Freya: Traumgeburt in Rückenlage
- Eileen: Hausgeburt trotz Hüftschmerzen
Liebe Frau im Park…
Liebe Frau im Park
Liebe Frau im Park, die meinte mir sagen zu müssen, dass ich sicher nicht dafür bezahlt werde, dem Kind beim Spielen zuzusehen, während ich im Schatten sitze und Milchshake trinke: Du hattest recht. Ich werde nicht dafür bezahlt. Aber das werden Mütter eben grundsätzlich nicht.
Schwanger mit 16
Schon vor der Geburt meines Kindes wurde davon ausgegangen, dass ich nicht die Mutterrolle übernehmen könnte. Als ich schwanger wurde, war ich 16 und knapp ein Vierteljahr mit meinem Freund zusammen. Mein Umfeld reagierte fassungslos, fing an zu weinen und als klar war, dass ich nicht abtreiben würde, beglückwünschten die Leute meine Mutter dazu, dass sie jetzt noch mal ein kleines Kind bekäme. Meine Mutter hat aber das bekommen, was Mütter kriegen, wenn ihre Kinder Kinder kriegen: ein Enkelkind. In der Schwangerschaft habe ich Sachen gemacht, die Schwangere halt so machen. Winzige Kleidung anschaffen, ein Bett, einen Wickeltisch. Vorsorgeuntersuchungen, Geburtsvorbereitung, viel schlafen. Nebenbei bin ich zur Schule gegangen, als Jahrgangsattraktion mit größer werdendem Bauch. Dann war Mutterschutz und dann irgendwann das Baby da.
Keine Adoption, keine Pflegefamilie
Es war Sommer und ich war gerade 17 geworden. Ich, meine Familie, meine Freunde und alle, die sich mit fortschreitender Schwangerschaft an den Gedanken gewöhnt hatten, dass da bald ein neuer Mensch zu uns gehören würde, waren völlig außer sich vor Glück. Entgegen allen Ratschlägen, die mir zum Teil völlig fremde Menschen auf der Straße gegeben haben, habe ich meine Tochter nicht zur Adoption freigegeben. Auch nicht in eine Pflegefamilie, zu meinen Eltern oder doch noch in die Babyklappe gelegt. Das hat mir mal eine Frau geraten, die mich im Bus darauf angesprochen hat, was ich denn mit dem Kind machen wollen würde. Wir kannten uns nicht, aber sie fand es angemessen, mir zu sagen, dass ich das ja nicht leisten könne.
Du kannst nicht die Mutter sein
Wenn meine Tochter geweint hat, wurde mir oft gesagt, ich solle sie besser mal wieder der Mutter bringen. In der Krippe wurde ich gelobt, dass ich mich so gut um meine kleine Schwester kümmern würde. Auf dem Spielplatz wurde mir gesagt, dass die Eltern bestimmt nicht wollen würden, dass ich dem Kind die Schuhe ausziehe, es sei doch noch so kalt. Einmal musste sie wegen einer Viruserkrankung über Nacht im Krankenhaus bleiben und die Nachtschwester hat mich fassungslos gefragt, wer ich sei und wie ich in das Zimmer gekommen wäre.
Seit der Geburt muss ich erklären, dass mein Kind zu mir gehört. Und sobald ich es erklärt habe, muss ich mich belehren lassen, was richtig und was falsch ist, weil das scheinbar jeder besser weiß als ich.
Seit der Geburt werde ich von Menschen in eine Schublade gesteckt, aus der es selbst mit aller Mühe schwer ist raus zu kommen.
Das RTL2-Klischee
Wenn ein Kind an der Supermarktkasse brüllt, nicken die Umstehenden und sagen: Jaja, das ist das Alter. Wenn mein Kind an der Supermarktkasse brüllt, dann sagen die Leute: Typisch, diese jungen Mütter haben ihren Nachwuchs einfach nicht im Griff.
Im Sommer werde ich 27 und meine Tochter zehn. Wenn fremde Leute uns beiden begegnen, gehen die Einschätzungen oft weit auseinander. Entweder glauben sie, ich sei Mitte 30, oder sie halten mich für die Schwester, eine babysittende Studentin, das Au-pair-Mädchen. Sobald sie wissen, wie es wirklich ist, sehen sie mich als Problem. Überrascht werde ich für den Namen meiner Tochter gelobt, entschuldigend wird verstanden, dass ich die Schule nicht zu Ende gemacht habe. Dass das nicht am Kind lag, sondern an der bewussten Entscheidung, mich aufs Schreiben zu konzentrieren, wollen die wenigsten hören.
Eine junge Mutter, die nicht dem RTL2-Klischee der asozialen, überforderten Brennpunktmutti entspricht, ist im allgemeinen Denken nahezu nicht vorhanden. Junge Mütter, die nicht jeden Mittag im und vorm Privatfernsehen sitzen, sondern in der Uni, auf Elternabenden oder auf irgendwelchen Spielplatzbänken sind, haben im Bewusstsein vieler Menschen offenbar keinen Platz.
Auch in diesem Jahr gibt es einen Geburtsgeschichten-Adventskalender und ein paar Adventsverlosungen. Sei dabei!
Mich nerven die erstaunten Blicke
Mich nerven die erstaunten Blicke. Die ewigen Fragen, wie so etwas denn eigentlich passieren kann, ob ich es zu spät gemerkt hätte, um abzutreiben.
Das habe ich nicht. Vielleicht war die Zeugung dieses Kindes nicht geplant, aber seine Geburt war es. Meine Tochter war kein Wunschkind, ist aber der beste Zufall meines Lebens. Und ganz sicher war sie kein Unfall. Bei einem Unfall kommen Leute zu Schaden, da geht etwas kaputt. Dieses Mädchen hat nichts kaputt gemacht (außer ein paar zerbrechliche Gegenstände und Hosen), ganz im Gegenteil. Sie hat eine Familie geschaffen, sie ist das Zentrum geworden, meines und das von einem biologischen und einem sozialen Vater, von vier Großeltern und sechs Urgroßeltern.
Sie ist groß geworden und schlau und frech und wunderbarer, als ich es jemals für möglich gehalten hätte. Und gerne und oft schaue ich sie an und staune über das, was ich da geboren habe.
Was ich wirklich leid bin, sind die Menschen, die es uns schwer machen. Die meinen, sich einmischen zu müssen. Die mir ins Gesicht sagen, ich sei eine asoziale Schlampe, die mir sagen, ich hätte besser abgetrieben und auch die, die einfach nur meinen, mit besserwisserischen Ratschlägen in meine Erziehung grätschen zu müssen. Die Menschen, die glauben, sie wüssten, was richtig und was falsch ist.
Als Mutter in egal welchem Alter ist diese ganze Kindersache ziemlich neu und spannend. Egal wie alt man ist, gibt man sich Mühe, nur das Beste zu machen – und macht doch nie alles richtig. Ich wünsche mir, dass die Leute nachdenken, bevor sie über Menschen urteilen, die sie nur aus dem Augenwinkel sehen. Es gibt verschiedene Familienmodelle, Mamas, Papas, junge Eltern, alte Eltern, Patchwork-Konstellationen und alle sind für sich genommen erst einmal ganz wunderbar und unantastbar.
Manchmal werde ich gefragt, wie ich reagieren würde, wenn meine Tochter mit 16 schwanger werden würde. Und ich bin mir sicher, ich würde genauso ausflippen und weinen und fassungslos sein wie meine Eltern anfangs. Aber nicht, weil es ein Drama ist. Sondern nur, weil ich weiß, was da auf sie zukommen würde. Und da wird einem vieles echt nicht einfach gemacht.
Wöchtenliche Updates zu neuen Beiträgen
Jule Weber
Jule Weber (*1993) lebt und arbeitet in Bochum und gehört zu den führenden Stimmen der deutschsprachigen Spoken-Word-Szene. Sie schreibt, seit sie schreiben kann, seit 2009 tourt sie mit ihren Texten im gesamten deutschsprachigen Raum und füllt die Bühnen und Räume mit präziser Sprache und einer sanften Atemlosigkeit.
Katharina Tolle
Wie schön, dass du hier bist! Ich bin Katharina und betreibe seit Januar 2018 diesen Blog zu den Themen Geburtskultur, selbstbestimmte Geburten, Geburtsvorbereitung und Feminismus.
Meine Leidenschaft ist das Aufschreiben von Geburtsgeschichten, denn ich bin davon überzeugt, dass jede Geschichte wertvoll ist. Ich helfe Familien dabei, ihre Geschichten zu verewigen.
Außerdem setze ich mich für eine selbstbestimmte und frauen*-zentrierte Geburtskultur ein. Wenn du Kontakt zu mir aufnehmen möchtest, schreib mir gern!
Liebe Jule,
eine ganz großartige Geschichte.
Danke für deine klaren Worte und DANKE fürs Teilen.
Als ich in der 11. Klasse war, wurde eine Klassenkameradin schwanger.
Sie wurde von ihren Eltern auf die Straße gesetzt, musste sich anhören, wie „assi“ sie ist.
Ich dagegen fand sie mutig und war mit dem Gedanken überfordert „Was wäre, wenn mir das passiert?“
Dann sprach ich das Thema zu Hause an, weil ich wissen musste, was meine Eltern sagen würden.
Sie sagten: Dann wäre es so. Ein Kind ist etwas ganz Besonderes. Wir würden das zusammen schon hinbekommen.
Von da an fühlte ich mich behütet und sicher – auch als Mutter.
Liebe Grüße,
Marion