Nicht alles läuft rund in Deutschland in Bezug auf Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett, Elternzeit und Familie. Manchmal fühlen wir uns hilflos, manchmal wollen wir uns verkriechen, und manchmal sind wir wütend. Wütend auf Umstände, die uns nur schlechte Optionen lassen. Wütend auf uns selber, dass wir keine andere Entscheidung getroffen haben. Und dann stellen wir uns manchmal die Frage: Hilft uns die Wut eigentlich?
In diesem Beitrag möchte ich die Wut ein wenig in ihre Einzelteile zerlegen und erzählen, wie ich persönlich damit umgehe, wenn Dinge nicht so laufen, wie ich sie mir wünsche.
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Wut als Emotion mit der Kraft zur Veränderung
Vor einiger Zeit las ich Ciani-Sophia Hoeders Buch Wut und Böse*. Sie beschreibt in dem Buch, dass Wut eine Emotion mit der Kraft zur Veränderung sei. Wut aktiviere und sei damit Ausgangspunkt für den Willen, etwas zu ändern. Hoeder nimmt in ihrem Buch die gesellschaftlichen Hintergründe von Wut auseinander und zeigt auf, dass die Wut der herrschenden Menschen (meist männlich, weiß und heteronormativ sowie ohne Behinderungen und nicht arm) oft als legitim angesehen wird, während die Wut anderer Gruppen eher belächelt oder als irrational bezeichnet wird.
Ihre These: Je stärker deine gesellschaftliche Position ist, desto legitimer scheint deine Wut. Sie nennt Beispiele:
- Wut von Männern ist der Ausdruck objektiver Ungerechtigkeit, wütende Frauen sind hysterisch (ah, was für ein Wort).
- Wut von reichen Menschen ist gerechtfertigt, arme Menschen lenken nur von ihrem eigenen Versagen ab.
- Zuwanderer*innen, Geflüchtete und Berufspendler*innen sollten dankbar sein statt wütend.
- Frauen sind, wenn überhaupt, stellvertretend für andere Menschen wütend. Sie kämpfen für andere (zum Beispiel ihre Kinder), nicht für sich selbst.
Meine ausführliche Buchrezension findest du hier.
Wut als Emotion zur Veränderung — das hat mich zum Nachdenken gebracht. Denn auch ich will Veränderung, und ich frage mich: Muss ich wütender sein, um diese zu erreichen?
Wut, um systemische Veränderung zu erreichen
Wie so viele andere Familien rege ich mich über diverse Ungerechtigkeiten auf. Ich will, dass
- Väter nach der Geburt bezahlten Vaterschaftsurlaub erhalten,
- Gebärende auch während der Corona-Pandemie eine Begleitung zur Geburt mitbringen dürfen,
- Sich jede Frau eine Hausgeburtshebamme leisten kann, egal, wie dick ihr Geldbeutel ist (externer Link zu Mymaisie),
- Jede Frau einen Kaiserschnitt bekommt, wenn sie ihn will oder er medizinisch tatsächlich notwendig ist,
- Die Last von Corona auf die Familien gemildert wird,
- Keine Kreißsäle aus Kostengründen geschlossen werden,
- Hausgeburten nicht automatisch mit Reichsbürger*innen in Verbindung gebracht werden,
- Meine Tochter selbstbewusst und informiert entscheidet, ob, wann und wie sie Kinder in die Welt setzt,
- Gewalt unter der Geburtshilfe kein Thema mehr sein muss,
…und noch so viel mehr.
Wir wollen etwas verändern. Wir wollen mehr Selbstbestimmung, die Anerkennung unterschiedlicher Geburtswünsche und wirklich freie Wahl.
Natürlich haben wir gute Argumente dafür. Wir sammeln Studien, tauschen uns aus und diskutieren.
Und dann hören wir mal wieder eine dieser Geschichten, die uns wütend macht; wenn bei einem Wehentropf nicht unterstützt wird, zum Beispiel.
Wir sind wütend auf die Personen, die in der konkreten Situation falsch gehandelt haben. Wir sind wütend auf ein System, das diese Art von Verhalten unterstützt, legitimiert oder zumindest nicht bestraft oder verhindert. Wir sind auch wütend auf uns selber, dass wir diese Ungerechtigkeit nicht verhindern konnten.
Vielleicht schreiben wir dann einen wütenden TwitterPost.
Und dann? Kommen wir damit unserem Ziel näher?
Argumente oder Wutausbruch?
Bisher versuche ich, zu argumentieren. Ich bin davon überzeugt, dass ich gute Argumente für meine Positionen habe. In einer perfekten Welt formen wir im respektvollen Dialog aus These und Antithese die Synthese.
Dies ist keine perfekte Welt.
Andere machen die Spielregeln in Bezug auf Leistungsvergütung, Fallpauschalen, Elterngeldregeln, medizinische Voraussetzungen für eine Hausgeburt. Ich muss nach diesen Spielregeln spielen — ob sie mir gefallen, oder nicht.
Und diese anderen haben die Macht, mich anzuhören oder auch nicht. Im Gespräch mit Politiker*innen fühle ich mich häufig nicht ernst genommen; im Gespräch mit Krankenkassen auch nicht.
Würde es helfen, wütend zu sein? Sollte ich aus der Haut fahren; vielleicht sogar geplant die Wut rauslassen, um mehr zu erreichen?
Ich wäre wohl schnell eine gestörte arme Frau, die nicht weiß, wohin mit ihren Emotionen.
Wut ist ein zweischneidiges Schwert. Sie kann helfen, Aufmerksamkeit zu bekommen. Das ist besser als im Turm der totalen Tristesse (Das NEINhorn*, Marc-Uwe Kling) zu sitzen und niemand bekommt es mit. Doch sobald die Aufmerksamkeit da ist, werden die Argumente schnell weggewischt mit einem typischen „Schrei doch nicht so!“ „Nun ja“, denke ich mir dann manchmal, „ohne Schreien hättest du mich ja gar nicht beachtet.“
Deshalb wähle ich einen anderen Weg. Ich kanalisiere meine Wut. Als Mitglied in verschiedenen Vereinen sprechen wir gemeinsam. Und, oh Wunder: wir werden zumindest als Gruppe von Menschen mit dem Willen zur Veränderung wahrgenommen — auch, wenn wir nicht wütend sind.
Nicht immer klappt das. Und in der Tat hat auch die Wut ihre Berechtigung. Es geht bei dieser Wut nicht darum, Menschen zu beleidigen oder anzuschwärzen. Es geht darum, zu sagen: „Ich bin wütend, denn dieser Umstand benachteiligt Menschen in jener Situation.“ Wenn du selber in dieser Situation bist, mag man dir Befangenheit vorwerfen. Die Wut auf die Benachteiligung ist deshalb trotzdem legitim.
Wut ist also durchaus wichtig, und ich rege mich auch immer mal wieder auf. Das tut gut und gibt mir Kraft, weiter zu schreiben, weiter zu reden, weiter für das einzustehen, was mir wichtig ist.
Diese Art von Wut gibt Kraft. Sie hat das von Ciani-Sophia Hoeder angesprochene Veränderungspotential.
Wut auf die eigene Geburtserfahrung
Ganz anders dagegen sieht es aus, wenn wir wütend sind auf unsere eigenen Geburtserfahrungen. Die Geburt meines ersten Sohnes endete so, wie ich es nie wollte. Im Krankenhaus kam er mithilfe einer Saugglocke zur Welt. Ich hatte lange daran zu knabbern.
Wut auf diese Erfahrung wäre allerdings langfristig kein guter Weg gewesen.
Natürlich war ich enttäuscht, traurig, verzweifelt, hoffnungslos. Ich hatte ihm, davon war ich fest überzeugt, den Start ins Leben gründlich versaut.
Ich war auch wütend: Auf mich, auf unsere Hebamme, auf die Ungerechtigkeit dieser Welt. Warum wurde ich nach meiner guten Vorbereitung nicht mit einer tollen Geburt belohnt!?
Glücklicherweise blieben diese Gefühle nicht. Im Gegenteil: Das Schreiben hat den Prozess der Vergebung initialisiert. Das Schreiben war für mich essentiell, um meine Geschichte zu ordnen. Manche Einträge waren sehr wütend; andere dagegen waren sehr analytisch. Ich brauchte das Hin und Her. Ich brauchte es, an manchen Tagen überwältigt zu sein von meinen Hormonen und an anderen Tagen ganz neutral sagen zu können: Das lief gut, das lief schlecht, beim nächsten Mal mache ich es anders.
Es war ein Prozess, der nicht einfach war. Immer wieder kam die Wut hoch; genauso wie Traurigkeit, Scham und Einsamkeit. Doch mit der Zeit konnte ich die Gefühle ansehen und benennen. Ich konnte sie einordnen und ihnen einen Platz geben.
Und schließlich konnte ich mir selber vergeben, dass ich Dinge falsch gemacht hatte. Und damit konnte ich auch allen anderen vergeben, denen ich bis dahin noch Schuld zugesprochen hatte.
Das ist nicht nur für mich persönlich, sondern auch für meine Beziehung zu meinem Sohn eine viel bessere Grundlage.
Wut ist deshalb für mich auch kein Allheilmittel.
Lenk deine Wut in die richtige Bahn
Wut ist normal; und deine Wut ist auch nicht weniger Wert als die Wut von Menschen mit mehr Macht. Wut hat die Macht zur Veränderung. Diese sollten wir nutzen.
Doch sollten wir unserer Wut nicht blind folgen. Es ist wichtig, zu trennen: Wann hilft uns die Wut, den Mut aufzubringen, etwas anzustoßen, unangenehme Wahrheiten auszusprechen und uns für eine gerechtere Gesellschaft einzusetzen?
Und wann ist die Wut zerstörerisch, weil sie Beziehungen unterminiert — zu uns selbst und zu anderen?
Vermutlich zeigt dieser Beitrag sehr deutlich, dass das Buch Wut und böse immer noch in mir arbeitet. Ich würde mich über deine Meinung freuen: Bist du manchmal wütend auf das deutsche System der Geburtshilfe? Wie gehst du mit dieser Wut um?
Hinterlass mir gerne einen Kommentar!
1 Gedanke zu „Wut & Vergebung: Wut auf das Geburts-System, aber nicht über meine Geburt“