Erwartung gegen Wirklichkeit

Yuval Noah Harari schreibt in seinem sehr lesenswerten Buch 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert1, dass Glück als Abhängigkeit von Erwartungen schwankt:

Das Glück des Menschen hängt weniger von objektiven Zuständen und stärker von den eigenen Erwartungen ab. Erwartungen neigen jedoch dazu, sich der Lage anzupassen, unter anderem auch der Situation anderer Menschen. (Seite 73, Hervorhebung durch den Autor J.H.)

Der Satz leuchtet ein — und lässt sich natürlich auch auf das Thema Geburt beziehen: Was erwarten wir heute von einer Geburt? In beide Richtungen können unsere Erwartungen von unserem Umfeld beeinflusst werden.

Wir erwarten Geburt als ein notwendiges Übel

Wir haben vom Hebammenmangel gehört, von geschlossenen Kreißsäälen, von sehr hohen Kaiserschnittraten, von viele Geburten, die manchmal sogar traumatisch waren. Wir sehen die Geburt deshalb als notwendiges Übel zwischen Schwangerschaft und dem Baby.

Wir erwarten Geburt als großartiges, katharisches Erlebnis

… und sind dann enttäuscht, wenn die Geburt nicht so läuft, wie wir sie uns erträumt haben. (Anna ging es so…) Wir wollten eine Hausgeburt, die aber verlegt werden musste? Wir wollten auf keinen Fall einen Kaiserschnitt, der dann aber doch durchgeführt wurde? Wir wurden objektiviert oder wir erlitten sogar Gewalt unter der Geburt?

 

Egal, wie unsere Erwartungen sind; sie sind immer abhängig von dem, was wir von anderen wissen. Und so wird auch eine „glückliche Geburt“ davon abhängen, wie wir die Geburten um uns herum wahrnehmen.

Eine wunderschöne Geburt zu erwarten und dann enttäuscht zu sein, kann traumatisch sein. Ist es deshalb besser, eine schlimme Geburt zu erwarten und dann positiv überrascht zu sein, wenn es doch nicht so schlimm kommt?

Nein, ich plädiere nicht dafür, dass wir uns darauf einstellen sollten, dass die Geburt übel wird. Unser Hirn sieht sich nämlich gern bestätigt in dem, was es sehen will. (Offtopic: Ein gutes Beispiel dafür sind Janusworte, siehe hier!) Wenn wir daran glauben, dass die Geburt schmerzhaft, anstrengend und viel zu lang dauern wird, erhöhst du die Chancen, dass es genau so wird. Und dann fühlst du dich wohl auch nicht subjektiv glücklich im Vergleich zu den Menschen um dich herum, um bei Hararis Ausdruck zu bleiben.

Besser ist es doch, davon auszugehen, dass es eine schöne Geburt wird. Vertrauen in dich selber, in dein Kind, in deine Geburtsumgebung (werde nicht zum Fluchttier!) sind gute Begleiter zu einer guten Geburt. McKayla erzählt schön, dass es genau an ihrem starken Glauben an schmerzfreie Geburten lag, dass ihre zweite Geburt schmerzfrei war.

Ja, wir sollten dir Risiken kennen. Wir sollten die Risiken allerdings nicht nur nennen, sondern auch in den Kontext setzen: Wie häufig sind diese Risiken, und wie kann die Gebärende diese Risiken minimieren? Während der Schwangerschaft nicht zu rauchen, ist ein guter Schritt, Risiken zu minimieren. Andere Risiken lassen sich nicht beeinflussen, sind aber sehr selten. So selten, dass wir uns vorher ruhig darauf verlassen können, dass uns das nicht passiert. Und wenn es dann doch passiert, wäre es dir in der Situation vermutlich egal gewesen, dass du es „vorher gewusst“ hast. Ich meine hier nicht, dass wir nicht auf unsere Intuition hören sollten. Denn das sollten wir definitiv. Christines Geburt zeigt seht schön, dass wir auf unser Bauchgefühl hören sollten. Wir sollten unser Bauchgefühl aber nicht mit unangebrachter Panik gleichsetzen.

Wie gehen wir also nun um mit unseren Erwartungen, die durch die Situation anderer Menschen geprägt wird?

Wir können dem Einfluss anderer Menschen nicht entgehen. Wir können uns lediglich bewusst sein, dass wir genau diesem Einfluss ausgesetzt sind. Und wir können entscheiden, dass wir uns die Geschichten im Stil von „bei mir war alles so schrecklich“ während unserer Schwangerschaft nicht anhören. Wir können recherchieren und uns Wissen aneignen. Wie können uns mental auf unsere Geburt vorbereiten, indem wir davon ausgehen, dass Frauen schon immer Kinder zur Welt gebracht haben.

Wir können uns also unser Glück berbeiwünschen und gleichzeitig undogmatisch in die Geburt gehen; einfach in dem Wissen, dass es so kommt, wie es kommt — und mit dem Vertrauen, dass das Kind heil geboren werden will.

Und nach unserer Geburt können wir anderen Menschen davon erzählen, wie unsere Geburt war. So tragen wir dazu bei, dass wir die Vielfältigkeit und Einzigartigkeit jeder Geburt verstehen. In dieser Liste gleicht keine Geburt der anderen. Lasst uns ein Umfeld schaffen, in dem wir glücklich sind, wenn unsere Geburt so verläuft, wie die der anderen. Es kann nie schaden, von vielen gelungenen Geburten geprägt zu sein.

 

Buch-Quelle

1. Harari, Yuval Noah: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert,Verlag C.H. Beck oHG, München, 2018, 5. Auflage. ISBN: 978 3 406 72778 8
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