Nein, in diesem Beitrag soll es nicht um Väter gehen, die sich im entscheidenden Moment fluchtartig in die Cafeteria verziehen.
Es geht um die werdende Mutter und um einen Urinstinkt, dem wir auch heute nur schwerlich entkommen können.
Lasst mich also eine Geschichte erzählen.
Von Rehen, Kaninchen, Pferden und Löwen
Stell dir vor, du bist ein Reh. Oder ein Kaninchen. Oder ein Pferd. Ein Fluchttier. Ein trächtiges Fluchttier, um genau zu sein.
Du merkst, dass die Geburt losgeht, und suchst dir deshalb einen sicheren Ort, an dem du deinen Nachwuchs ungestört zur Welt bringen kannst. Du hast diesen Ort gefunden, machst es dir gemütlich und legst los.
Auf einmal schrillen die Alarmglocken (wahlweise ein Mitglied der Herde oder sonst eine Änderung der Außenwelt, die dich aufmerksam werden lässt). Alarm. Gefahr droht.
Bei allen anderen Vertreter*innen deiner Art passiert nun Folgendes: Alle für die Flucht unnötigen oder hinderlichen Körperprozesse werden so weit wie möglich zurückgefahren: Die Verdauung zum Beispiel, aber auch das Bedürfnis nach Schlaf wird durch einen plötzlichen Adrenalinstoß kurzzeitig ausgehebelt.
Bei dir passiert zusätzlich noch etwas: Ein weiterer Körperprozess, der bei der Flucht eher hinderlich ist, wird gestoppt: Die Geburt. Klingt logisch, oder? Die Hormone sind dabei ausschlaggebend: Angst, Anspannung und Fluchtdrang werden von Adrenalin und anderen „Stresshormonen“ ausgelöst. Da hat das Bindungs- und Geburtshormon Oxytozin wenig Platz.
Die Geburt wird also verzögert, bis sich die Lage wieder entspannt hat. Eigentlich sinnvoll, oder? Wer will schon Nachwuchs auf die Welt bringen, während der Jagdhund, der Fuchs, ein Wolf oder ein großer Traktor in der Nähe ist.
(Interessanterweise ergeht es Jägerinnen ähnlich: Auch für Löwenmuttis gilt: Es gibt gefährliche Situationen [wir erinnern uns an die Gnuherde aus dem König der Löwen…], in denen Geburt nicht die erste Wahl ist. Und auch während der Jagd werden andere Körpervorgänge zurückgefahren.)
Und wir?
Wir wissen mittlerweile, dass unser Körper noch genauso auf Hormone reagiert, wie er das zu Höhlenmenschzeiten tat. Adrenalin hat die gleichen körperlichen Auswirkungen wie eh und je. Wer kennt das nicht — Herzklopfen, schwitzige Hände…
Angst, Stress oder Unsicherheit während der Geburt haben bei uns ähnliche Effekte wie bei den oben beschriebenen Säugetieren. Sprich: STOPP! Dies ist der falsche Moment für die Geburt. Alles anhalten, wenn möglich Gegenmaßnahmen einleiten. Geburt läuft erst wieder an, wenn sich die Situation entspannt hat.
Nun müssen die allermeisten von uns sich nicht vor Jagdhunden, Füchsen, Wölfen oder großen Traktoren fürchten. (Naja, wenn ihr so empfindlich auf laute Geräusche reagiert, wie ich, dann schon — das mussten auch mein Mann und meine Hebamme erfahren. Schaut hier rein.)
Wir fürchten uns aber vor anderen Dingen: Ungewissheit, Schmerzen, dass irgendetwas schief geht. Und wir reagieren auch unbewusst auf unsere Umgebung und auf Veränderungen darin.
So folgt jetzt wieder eine kleine Geschichte:
Licht an, Geburt aus!
Du bist im Krankenhaus, im Kreißsaal. Dein MP3-Player spielt über die mitgebrachte Box eine ruhige, entspannende Musik. Die Vorhänge sind halb zugezogen, du sitzt auf einem Pezzi-Ball mit dem Rücken zur Tür und lässt dir von deinem Gatten oder deiner Doula zwischen den Wellen die Schultern massieren.
Du lässt dich auf die Wellen ein, schöpfst dazwischen Kraft. Es geht dir gut. Klar, die Geburt ist anstrengend, aber eigentlich gibt es nichts, das dir besonders Angst machen würde. Wie weit dein Muttermund geöffnet ist, weißt du nicht. (Siehe hierzu auch diesen Beitrag zur Rolle des Muttermundes bei der Geburt.) Es interessiert dich aber auch nicht, weil du merkst, dass es voran geht, dass die Geburt ihren Lauf nimmt. Von sich aus; ohne Eingriffe.
Jetzt geht dir Tür auf. Das Licht geht an und du hörst eine laute Stimme. „So, Frau XYZ, kommen Sie mal von dem Ball runter und legen Sie sich hin; ich will mal schauen, wie weit Sie schon sind, also, wie offen ihr Muttermund schon ist.“
Im Optimalfall lässt du dich davon nicht stören, sagst entweder, dass du das nicht willst, oder legst dich hin, lässt den/die Ärzt*in oder die Hebamme schauen, setzt dich danach wieder auf den Ball und machst weiter.
Oder aber dein Adrenalinspiegel schießt in die Höhe. Das Licht ist anders, als du willst. Die Lautstärke ist anders, als du willst. Du musst deine Körperposition ändern — was du nicht willst. Sprich: Wenn es auch vielleicht kein „Fluchtmoment“ ist, fühlst du dich trotzdem ziemlich unwohl.
Als Konsequenz hält dein Körper den Geburtsprozess an. Eventuell schließt sich dein Muttermund spontan wieder.
„Oha“, bekommst du dann zu hören, „da ist aber nicht viel Fortschritt. Wenn’s nicht bald voran geht, werden wir mal ein wenig unterstützen!“
Wiederum gibt es eine gute und eine eher schlechte Version, wie es jetzt weitergeht: Entweder setzt du dich wieder auf den Ball, der Stress fällt ab, du machst einfach weiter, und der Eingriff ist vergessen.
Oder der Eingriff führt dazu, dass die Geburt länger still liegt. Dass nichts mehr voran geht. Und dass als Konsequenz daraus am Ende vielleicht sogar mit Medikamenten oder weiteren Eingriffen die Geburt „unterstützt“ wird.
[Zum Thema Gewalt unter der Geburt passt auch dieser Beitrag: Roses Revolution Day.]
Die Moral von der Geschicht‘: Stör die gebärende Frau doch nicht!
Und die Moral von der Geschicht: Stör mir die Gebärende nicht!
Frauen sind bei der Geburt nicht immun gegen Veränderungen in ihrer Umgebung und ihrer Betreuung. Eine Einmischung in den Geburtsvorgang kann deshalb, obwohl gut gemeint, eine Störung sein, die dann wiederum zu weiteren medizinischen Eingriffen führt.
Für die Frauen ist es deshalb wichtig, solche Situationen – wenn möglich – zu vermeiden. Dies ist bei Geburten unter der Betreuung einer „eigenen“ Hebamme oft einfacher als mit Krankenhauspersonal, das man erst während der Geburt kennen lernt. Denn Beleghebammen im Krankenhaus und Hebammen in der außerklinischen Geburtshilfe kennen ihre Frauen schon länger und können eher einschätzen, was diese stört und was nicht. Sie vertrauen auch eher darauf, dass die Frau weiß, was sie tut. Und sie nehmen, wenn die Untersuchung (egal, ob nun eine Öffnung des Muttermundes, das Abhören der kindlichen Herztöne oder anderes) nötig ist, oft mehr Rücksicht darauf, diese für die Gebärende so angenehm wie möglich zu machen.
Dadurch können dann hoffentlich Fluchtsituationen vermieden werden. (Oh, übrigens kannst du dich auch einfach fürchterlich über jemanden oder etwas ärgern — der hormonale Effekt ist ähnlich; du bist dann praktisch im Jagd- statt Fluchtmodus.)
Wenn wir unnötige Verlängerungen des Geburtsvorgangs oder Folgeeingriffe bei der Geburt verhindern wollen, sollten wir deshalb auf die gebärende Frau hören. Oft ist ein „nein“ zu einer bestimmten Untersuchung eine schwierige Reaktion, obwohl sie der Betroffenen gut täte. Deshalb ist es um so wichtiger, dass Frauen auf Menschen in ihrem Umfeld vertrauen können; dass Frauen die Subjekte ihrer Geburt bleiben — auch gegen Krankenhausrichtlinien.
Für das Personal wäre es außerdem sehr wichtig, sich über die Wirkung ihrer Worte im Klaren zu sein. Oft fallen Sätze, die einfach so dahin gesagt werden, ohne dass überhaupt über die mögliche negative Wirkung auf die Gebärende eingegangen wird (auch hierzu werde ich nochmal einen Beitrag verlinken.)
Zum Thema passt auch mein Beitrag- Subjekt statt Objekt, der zusammenfasst, warum wir als Gebärende die Hauptrolle bei der Geburt spielen sollten.
Dein Kommentar
Wie erging es dir? Hast du Störungen während der Geburt erlebt? Hast du auf diese eher stoisch-desinteressiert, unsicher-furchtsam oder genervt-angriffslustig reagiert? Lass es mich gerne in einem Kommentar wissen!
4 Gedanken zu „„Nur weg hier“ — Als Fluchttier bei der Geburt“