Ihr Lieben, schon wieder ist ein Kalender am Ende angekommen. Zum Abschluss teile ich heute Tanjas Geschichte mit euch. Tanja schreibt sehr ausführlich über Leben und Tod. Sie ist Mama von 2 Kindern an der Hand und Zweien im Herzen. Und mit Tanjas Geschichte über den ewigen Kreislauf des Lebens endet der diesjährige Geburtsgeschichten-Adventskalender.
Ich wünsche euch allen einen guten Jahresausklang und freue mich, wenn auch ihr mir eure Geburtsgeschichten schickt, sodass ich diese hier im Blog veröffentlichen kann.
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Alle Fotos in diesem Beitrag sind von Tanja. Bitte frag sie, falls du sie nutzen willst.
Dieser Beitrag erscheint im Rahmen des Geburtsgeschichten-Adventskalenders 2023. Alle Folgen sowie Infos zu Gewinnspielen findest du unten.
Tanja: Woher mir meine Sternentochter kurz vor ihrer Geburt Kraft schenkte
Saftiges Grün
Starkes, saftiges, sinniges Grün. Von meinem Fenster aus sehe ich nur diese Farbe. In welchem Zimmer ich bei meinen Aufenthalten auch untergebracht war, immer hatte ich Fensterblick zum Innenhof, aus dessen Mitte diese Eiche emporragte. Das Klinikbett lässt sich fast auf Fenstersimshöhe stellen und die obere Hälfte in eine bequeme Sitzposition fahren, so dass ich die Eiche sehen kann. Die Sommersonnenstrahlen setzen ihre unzähligen Blätter in Szene und spenden mir Energie.
Das Grün der Eiche erinnert mich an einen Familienausflug zum Geburtsort meines Großvaters. In seiner Realität hieß das Dorf noch immer Ullersgrün und war der Nachbarort von Merkelsgrün im Landkreis Karlsbad.
In Wahrheit ist auf der Landkarte keine seiner Ortsangaben zu finden. Dort steht Old?iš, als Ortsteil von Merklín der Karlovarský kraj. Bei unserem Familienausflug achtete ich peinlich genau darauf, die wirklichen Namen nicht zu nennen und ihn bei Verkehrsschildern abzulenken. Ich wollte ihn nicht damit verletzen, dass es seine Heimat in Wahrheit nicht mehr gab.
Er hat sich Zeit seines Lebens als Deutscher bezeichnet, obwohl die Zugehörigkeit seines Heimatortes oft wechselte, von Österreich über die Tschechei bis hin zum Deutschen Reich und schließlich zur Tschechischen Republik. Er sprach immer vom Egerland, maximal fiel das Wort Sudeten(deutsch)land.
Vielleicht entsprang die hartnäckige Weigerung gegen die neuen Namen der Sehnsucht an die vergangene und friedliche Zeit. Vielleicht, was ich für wahrscheinlicher halte, interessieren sich Menschen, die ab 1940 in den Krieg ziehen mussten und dann vertrieben oder nicht mehr zurück in die Heimat durften, nicht für formale Konstruktionen. Das Überleben im Nachkriegsalltag nimmt allen Raum ein.
Mir sind die historischen Hintergründe der wechselnden Zugehörigkeit seines Heimatortes selbst nach eingängiger Recherche zu abstrakt. Für mich könnten die Namen meines Opas nicht treffender sein: Ullersgrün, Merkelsgrün und noch viel mehr grün: Tüppelsgrün, Rüppelsgrün, Kammersgrün. Die kleinen Dörfer könnten die Filmkulisse für verwunschene Märchengeschichten sein, mit Mühlenrad am Bächle und urigen Bauernhäuschen. Selbst die Trauerweiden erstrahlen im leuchtenden Grün, gleich dem Grün des Amazonas, diese kräftige, intensive Dschungelfarbe, nur mit der hiesigen Pflanzenwelt. Ich glaube, von dort kommt die Redewendung „Gras über etwas wachsen lassen.“ Durch die Erzählungen meines Opas erwachen die wildbewachsenen Ruinen und Erdhaufen zum Leben, aber das Auge blickt schlicht auf starkes, saftiges Grün.
Der banale Kreislauf der Natur
Die Farbe des Eichenlaubs vor dem Klinikfenster. Ihre kaiserliche, wuchtige, buschige Baumkrone ist auf Augenhöhe mit mir, also muss die Eiche mindestens 10 Meter hoch sein, weil sich die Abteilung für Geburtshilfe im 3. Stock befindet. Vielleicht ist es gar keine Eiche. Ich kenne mich mit Baumarten nicht aus. Ich gebe ihr den Namen, weil mein Opa einen Sarg aus massivem Eichenholz wollte. Und der Baum vor meinem Fenster ist mehr als massiv. Es ist bedeutungslos, welche Baumart es tatsächlich ist. Nur mir liegt daran, dem Baum einen Namen geben. Damit möchte ich die räumliche und existenzielle Distanz zwischen meiner Eiche und mir überbrücken. Ich brauche diese Nähe. Ohne meine Eiche schaffe ich das heute Nacht nicht.
Sie erklärt mir den banalen Kreislauf der Natur. Über ihre Blätter nimmt sie das Kohlendioxid der Luft auf und über ihre Wurzeln Wasser. Beides zusammen verwandelt sie in Sauerstoff und den spendet sie über ihre Blätter an alle Lebewesen. Davon leben wir. Ich lebe davon. Das Leben in mir lebt davon.
Der Kreislauf der Natur dreht sich stoisch und fordert für das Leben den Tod. Tod und Geburt und Tod und Geburt. Kompliziert ist das nicht. Bei diesen Gedanken höre ich einige Zimmer weiter die schrillen Schreie eines Säuglings, der zum ersten Mal Luft atmet. Wie viele gebärende Frauen und Säuglinge die Eiche wohl schon hat schreien hören? Und wie viele stille Schreie musste sie ertragen? Ertrage ich den stillen Schrei? Was für eine Frage. Die Frage einer Rabenmutter. Als ob es hier um mich ginge. Es geht weder um mich noch um die Eiche. Wie ist es für mein Kind? Was muss mein Kind ertragen?
Vorsichtig setze ich mich an die Bettkante und stehe langsam auf. Eine Hand flach auf meinem Bauch, trete ich ans Fenster. Ich öffne es und schwüle, warme Luft bedeckt mein Gesicht. Keine Schreie mehr. Das Baby scheint beruhigt. Ich lausche dem Zwitschern der Amseln und Rotkehlchen und beobachte jene Vögel, die ins Laubblättermeer eintauchen und daraus entspringen, als wären sie Vogeldelphine. Ich beneide die Vögel, welche sich in das weiße Nichts des Sommersonnenhimmels davon machen. Wie in Trance sehe ich dem Wind zu, der mit den Eichenblättern spielt. Ihr Blätterschopf ist so dicht, dass ich keinen einzigen Ast erkenne. Nur die Vögel und die tanzenden Blätter. Es ist keine schnelle Musik, die der Wind mit ihnen spielt.
Abrupt wird das Windblätterkonzert von einem weiteren schrillen Gebrüll eines Neugeborenen unterbrochen. Die Blätter schwingen davon unbeeindruckt weiter. So dezent, wie sie sich bewegen, muss es ein langsamer Walzer sein. Standardtanz und klassische Musik ähneln der Eiche. So weise und beruhigend wirkte sie auf mich. Zumindest bis vor einer Woche.
Ultraschall: Zwangshaltung
Seit dem Ultraschallbild meiner Tochter in der sogenannten Zwangshaltung wirkt nichts mehr. Mein Körper ist eine leere Hülle. Ich habe alle Verbindungen zur Welt verloren. Als Zuschauerin verfolge ich mein Lebenstheater vom Parkett aus. Kein Logenplatz. Auch kein Platz hinter der Bühne. Ich kann nicht einwirken, sondern führe Regieanweisungen und Drehbuch aus. Mich betäubt, was der Kreislauf der Natur für die Besetzung in meinem Lebenstheater vorgenommen hat. Ich will bei so etwas nicht mitspielen, aber es ist die einzige Entscheidung, die ich für meine Tochter treffen darf. Ich wusste es in dem Moment, als sie uns die Frage stellten und sah in den Augen meines Mannes, wie wir uns entscheiden.
Die Natur durfte unserer Tochter nicht auch noch das antun. Sie kann nichts dafür. Ich bin ihre Mutter, aber ich kann sie nicht schützen. Ich kann nur mit ihr sein. Das ist der Kreislauf der Natur und ich bin Teil der Natur. Immerzu rotiert ein Satz wie ein Mantra in meinem Kopf. Mein Kind stirbt. Ein Mantra soll zur Erkenntnis führen. Welche Erkenntnis soll das sein? Leidet sie? Wahrscheinlich hat sie noch keine Schmerzrezeptoren. Wer weiß das schon, ergab meine Recherche. Ich weiß nur, dass sie von Beginn an im Fruchtwasser geschwommen ist wie ein übermütiger Delphin. Sie scherte sich nicht darum, dass vom ersten Besuch bei der Frauenärztin an die Wissenschaft auf ihren Tod gewartet hat. Nicht Tod, die Medizin nennt ihn, den Tod des Kindes bis zur 16. Schwangerschaftswoche, Frühabort. Im Alltag heißt er bis Ende der 12. Schwangerschaftswoche meistens Abgang. Aber wen kümmern diese Namen?
Fast erloschene Lava
Zu lange hätte das Ei gebraucht, um zu springen, hieß es. Zu lange, um sich einzunisten. Zu lange blieb es ein Dottersack. Dann kam das eigentliche Problem. Ein Hämatom hatte sich gebildet. Noch nie habe ich so viel geblutet wie während dieser Schwangerschaft. Das Rot der Blutungen war kein helles, klares Rot, wie beim Erleuchten einer Warnblinkanlage, sondern ein dunkles Rot, fast schwarz wie erloschene Lava. Sogenanntes „altes Blut“, das sich nach und nach aus der Fruchtblase zwängte. Ich habe noch nie so viel über Biologie, Medizin und das menschliche Leben gelesen, fast schon studiert, wie zu dieser Zeit. Mit dem Wissen wurde für mich einsichtiger, dass die Entstehung menschlichen Lebens so komplex ist, dass sie Magie gleicht. Je mehr ich recherchierte, desto mehr empfand ich jedes Ultraschallbild als ein wahres Kinderglückswunder.
Vitales Kind
Woche für Woche besuchten wir die Frauenärztin. Unser Kind war immer quickfidel. „Vital“ nannte es die Ärztin. Sie machte dies an den wendigen Bewegungen fest. Kein Termin verstrich ohne zusätzliche Diagnosen. Die Herztöne entsprachen nicht dem Durchschnitt, aber unser Kind war wohl auf. Es folgten Blutungen und Bettruhe. Die Nabelschnur hatte sich fehlerhaft gebildet, aber unser Kind war wohlauf. Wieder Blutungen und Bettruhe. Es hatten sich zwei statt einem Aortenbogen gebildet, aber unser Kind war wohl auf. Wieder Blutungen und Bettruhe. So viele Befunde hatte die Frauenärztin in ihrer Laufbahn noch nicht gesehen. Sie wollte eine Zweitmeinung, obwohl sie über langjährige Erfahrung verfügte. Selbst die Zweitmeinung im Krankenhaus verlangte nach einer Drittmeinung und sogar diese holte eine Viertmeinung hinzu. So außergewöhnlich die Diagnosen, vor allem in ihrer Anzahl, waren, so wohlauf war unser Kind.
Verdacht auf Trisomie 22
Im vierten Schwangerschaftsmonat waren genetische Untersuchungen möglich. Bei der Ultraschalluntersuchung kam der Verdacht einer schweren und seltenen Behinderung auf: Trisomie 22.
Wir mussten sieben Tage auf die Ergebnisse der Laboruntersuchung warten, ob sich der Verdacht bestätigte. Worin sie sich sicher waren, war das Geschlecht. Eine Tochter. Für mich änderte diese Information nichts. Meine Gefühle, meine Ängste und Sorgen galten unserem Kind. Anders schien es meinem Umfeld zu gehen. Das Geschlecht scheint wie ein Name zu sein, der Bedeutung vergibt. Vielleicht wuchs bei anderen erst mit dem Geschlecht die Vorstellbarkeit, jedenfalls wurde die Anteilnahme persönlicher und intensiver. Andere wurden sehr ehrlich:
„Lohnt sich dieser Spießrutenlauf? Es soll halt nicht sein. Tut euch das nicht weiter an“, „Macht es doch weg“ oder „Es ist doch nur ein Zellhaufen.“ Ich sollte mir mein Kind nicht antun? Mein Kind „wegmachen“? Mein Kind wäre nur ein Zellhaufen? Ich war schockiert, perplex.
Spielen mir meine Gefühle einen Streich? Bilde ich mir meine Realität ein? Ich recherchierte den Begriff Zellhaufen. Die lateinische Bezeichnung war Blastozyste. Unter Verwendung dieses Begriffes für menschliches Leben ist Stammzellforschung möglich. Bei jedem Lebewesen teilen sich vom ersten Moment an die Zellen. Stoppt die Zellteilung, stirbt es. Es lässt sich also bei jedem lebenden Wesen, in jedem Alter, von Zellhaufen sprechen. Auch diese ehrlichen Menschen ließen sich auf ihre Eigenschaft Zellhaufen reduzieren. Ich konnte dieses Gedankenchaos nicht stoppen.
Der Schock formierte sich immer mehr in Wut und Aggression. Es fühlte sich an, als wollten sie meiner Tochter durch Begrifflichkeiten ihre Existenz oder gar ihren Wert rauben. Das Schlimmste war für mich in diesem Moment, dass ich wusste, ich hätte vor meiner Schwangerschaft auch so gedacht. Bei diesem Gedanken wurde mir schlecht.
Der Wert eines Menschen
Die Bezeichnungen fühlten sich an, als würde meine wehrlose Tochter angegriffen. Ich konnte nicht für ihr Überleben sorgen, aber ich musste sie verteidigen. Warum diese unterschiedlichen Begriffe für sie? Die Bezeichnungen Kind, Jugendliche und Erwachsene geben die Schutzbedürftigkeit an, das leuchtet mir ein, aber den Wert eines Menschen?
Nach Verschmelzung von Eizelle und Samenzelle ist der Keim für all das vorhanden, was wir sein werden und sind. Wie ein Luftballon, der lediglich noch aufgeblasen werden muss. Im luftleeren Zustand geben wir einem Luftballon auch keinen anderen Namen. Für die Medizin ist die Unterteilung zweckmäßig, aber für den Alltag?
Wir nennen einen Beinbruch im Alltag einfach Beinbruch und nicht Weber A, B, C Fraktur mit lateinischen Klassifikationen. Vielleicht haben manche Menschen Angst vor der Nähe, die durch Namen und eindeutige Bezeichnungen entsteht? Zumindest habe ich vor dieser Nähe Angst. Es wird dann alles so echt.
Bei schlimmen Ereignissen lässt sich durch Anonymität, Tabu, Ignoranz zum Selbstschutz eine Mauer aufbauen. Ich kenne das. Ich erhoffe mir durch die Mauer, dass das Schlimme mich nicht einnehmen kann. Aber noch mehr fürchte ich mich vor dem Verdrängen, seit ich mich mit möglichen Folgen wie posttraumatischer Belastungsstörungen auseinandergesetzt habe.
Auch in diesem Jahr gibt es einen Geburtsgeschichten-Adventskalender und ein paar Adventsverlosungen. Sei dabei!
Gesund – für wenige Stunden
Überlegungen jener Art brachten mich in dieser Woche beinahe um den Verstand. Wahrscheinlich wollte ich vor der Frage, was wir im Falle einer Behinderung tun, fliehen, denn keine Bezeichnung konnte an der Bedeutung etwas ändern: Dieser Zellhaufen ist unsere Tochter. Wen kümmern die vielen Namen für ein und dasselbe menschliche Lebewesen? Mich sollten sie nicht kümmern.
Wir wollten uns klarmachen, was die Behinderung für unsere Tochter und uns bedeutete. Innerhalb von einer Woche. Bisher hatte es nach jeder schlimmen und ungewöhnlichen Diagnose geheißen, dass die Vitalwerte unserer Tochter mehr als in Ordnung seien und, dass sie damit leben könne. Eine Amerikanerin wurde 99 Jahre alt, obwohl mehrere ihrer Organe an der falschen Stelle lagen. Warum sollte es bei unserer Tochter nicht auch so sein?
Und dem war auch so. Das Labor widerlegte den Verdacht: Sie war gesund!
Mit allen vorherigen Diagnosen könne sie ohne Komplikationen leben. Damit nicht genug. Selbst das Hämatom hatte sich aufgelöst. Unsere Tochter trotzte allen Prognosen. Ihre windigen Bewegungen bewiesen ihre Stärke.
Ein Vorteil der vielen Besuche bei der Frauenärztin war, dass wir viele Bilder von unserer Tochter hatten. So war ich mir sicher, dass sie ab und an Kraft schöpfte, wenn sie ruhig im Fruchtwasser schwamm.
Finna
Auf einem Ultraschallbild formte sie ihre Finger zu einem Peace-Zeichen, während sie die Beine übereinanderschlug. Sie erinnerte mich an ein Bild von Huckleberry Finn, auf dem er in der Hängematte liegt. Sie glich ihm in vielem. Sie hielt sich nicht daran, was die Medizin von ihr erwartete. Sie ließ sich trotz ihrer Diagnosen nicht von den vielen Ultraschalluntersuchungen unterkriegen. Sie ließ sich nicht von dem Blut unterkriegen. Sie ließ sich auch nicht von der Fruchtwasserpunktion unterkriegen. Deshalb nannten wir sie in Anlehnung an Huckleberry Finn: Finna.
Nach knapp fünf Monaten verbrachten wir den ersten Abend ohne Angst. Entspannt lagen mein Mann und ich ineinander verschlungen auf der Coach, bis wir endlich ins Bett schlüpften. Ich schlief direkt ein. Keine Bettruhe und keine Blutungen.
Blasensprung im 5. Monat
Wasser. In der Nacht, nachdem wir erfahren hatten, dass Finna gesund war, fühlte ich wieder Flüssigkeit zwischen meinen Beinen. Ich dachte: „Nein. Das Hämatom! Nicht wieder das Hämatom.“ Es war nicht das Hämatom. Es war Fruchtwasser. Das Element, aus dem die Eiche Sauerstoff für Leben bereitstellt.
„Aber Finna ist doch gesund?“, fragte ich den Arzt im Krankenhaus, „sie kann doch mit doppeltem Aortenbogen und dieser Nabelschnur ohne Beschwerden leben und alles andere hat sich normalisiert?“
„Stellen Sie es sich wie bei einer Jeanshose vor. Wenn sie die viele Male waschen, wird das Material dünner. So ist es durch die vielen Blutungen mit ihrer Fruchtblase geschehen.“
Jeanshose. Zellhaufen. Jeanshose. So banal der Vergleich auf mich wirkte, so normal und einfach ist der Kreislauf der Natur.
Mein Körper tötet mein Kind
Wir warteten nun seit einer Woche im Krankenhaus, ob die Natur den Blasensprung heilt. Die Medizin kann den Blasensprung noch nicht heilen. Das Lebenselixier hatte sich zum Auslöser für ihren Tod gewandelt. Sie lebte noch, aber sie bewegte sich nicht mehr. Starr und zusammengerollt verharrte sie. Zwangshaltung nennt sich diese Stellung. Ihr Kopf ist nach unten gerichtet, weil sich mein Körper darauf vorbereitet, sie abzustoßen. Ein Kind, welches an Luft nicht überlebt, weil Eltern und Medizin noch nicht so weit sind, um für das Überleben zu sorgen. Mein Körper tötet mein Kind. Wie kann ich da mitspielen? Die Natur streicht die wichtigste Rolle aus meinem Lebenstheater und zwingt sie von ihrer eigenen Lebensbühne. Die Natur tötet ihr und mein Kind und ich bin Teil der Natur.
Sie erklärten uns, dass sich der Körper drei oder vier Tage Zeit lässt, bis er sie auspresst. Eine Höllenvorstellung. Nach einer Woche soll meine Tochter weitere drei oder gar vier Tage vegetieren? In dieser Zwangshaltung ohne Fruchtwasser? Das Einzige, was wir für sie tun konnten, lag in der Frage der Ärztin:
Wir entscheiden uns dafür, ihr das Leben heute zu nehmen
„Wollen Sie die Schwangerschaft früher beenden?“, die einzige Entscheidung, die wir für unsere Tochter treffen, ist die Entscheidung über ihr Leben. Wir entscheiden uns dafür, ihr das Leben heute zu nehmen. Ihre Lebenszeit verkürzen. Leben nehmen oder Schwangerschaft beenden, nennt sich ein Schwangerschaftsabbruch, wenn er aus medizinischen Gründen vorgenommen wird, wie in Finnas Fall, weil die Natur durch den frühzeitigen Blasensprung entschieden hat.
Wenn der gleiche Prozess auf Wunsch der Eltern oder Mutter innerhalb der ersten drei Monate vorgenommen wird, nennt er sich Abtreibung. Abtreibung und Schwangerschaftsabbruch sind verschiedene Realitäten für ein und dieselbe Wahrheit. Leben beenden. Leben nehmen. Töten.
Ich glaube, unterschiedliche Namen sollen Betroffenen vor der Wahrheit schützen. So wie ich meinen Opa vor den anderen Namen für seine Heimat schützen wollte. Ich will und verlange aber keinen Schutz. Im Gegenteil: Es verzerrt meine Wahrnehmung, wenn sich die Wahrheit in verschiedene Realitäten splittet.
Nach meinem Verständnis und Gefühl ist der Name dafür töten. Wen kümmern unterschiedliche Namen für das Töten? Mich! Es fühlte sich an, als würde ich mich vor der Entscheidung verstecken, wenn ich eine andere Bezeichnung wählte. Als heuchelte ich vor, ich hätte keine Wahl gehabt, was gleichzeitig bedeutete, ich hätte als Mutter die Entscheidung nicht für meine Tochter getroffen.
Ich stehe zu der einzigen Entscheidung, die ich für meine Tochter treffen durfte. Ich stehe nicht nur dazu, ich bin stolz, einmal als Mutter für meine Tochter etwas tun zu dürfen. Ich bin überzeugt, das Beste für sie zu tun, aber nur wenn ich mich dem Kern der Wahrheit stelle. Das geht nur, wenn ich die Wahrheit beim Namen nenne: Ich töte mein Kind.
Kein Spruch heute
Die Tür öffnet sich und die Krankenschwester mit den roten Haaren tritt ein. Ich drehe mich um und nicke ihr nur zu, bevor sie mich zum Bett führt und sich ans Fußende meines Bettes stellt. Ich mag sie, weil sie spricht, wie ihr der Mund gewachsen ist, aber heute belässt sie es lächelnd bei einem:
„Na?“
„Keinen Spruch heute?“, frage ich sie und merke nur an der Nässe auf meinen Wangen und dem Schleierfilter meiner Kontaktlinsen, dass ich weine. Ohne weitere Worte kommt sie, schiebt mich zur Seite, setzt sich neben mich, legt ihren Arm um mich, drückt meine Schultern fest und lehnt ihre Stirn an meinen Kopf.
Meine Tränen kullern aus mir heraus und meine Nasennebenhöhlen machen zu. Ich muss trinken, das lenkt mein Hirn ab und schließt die Tränendrüsen. Ich brauche kein Wasser in den Augen, ich brauche Wasser in meiner Fruchtblase. Es klopft und die Stationsleitung schaut zur Türe herein:
„Dein Dienst ist zu Ende.“ Die Krankenschwester mit den roten Haaren schüttelt den Kopf. Ich weiß von ihrer Nachtschicht und sage: „Gehen Sie heim. Wir kommen schon klar.“ Sie zieht die Augenbrauen hoch, tätschelt mein Knie und reicht mir eine Flasche Wasser. Sie beobachtet, wie ich trinke, als ich absetze, fragt sie: „Kann ich irgendetwas für dich tun?“ Sie duzt mich immer.
Was passiert, wenn es losgeht?
Sie ist eine dieser Personen, deren natürliche Ausstrahlung zu persönlich für die Höflichkeitsform ist. Ich frage sie: „Was passiert, wenn es losgeht?“ Sie lächelt und erzählt mir eine halbe Stunde lang, was auf uns zukommt.
Sie endet damit, dass es auch dem Klinikpersonal sehr nahe geht. Sie nehmen maximal drei Patientinnen wie mich am Tag, weil sie selbst nicht mehr verkraften. Das Medizinische nimmt den größten Teil ihrer Erzählung ein, aber in Erinnerungen bleiben mir ihre letzten Sätze: Das Personal organisiert eine Verabschiedungszeremonie und kümmert sich um ein Sternenkindergrab.
Nach einer weiteren Umarmung überreicht sie mir Informationsblätter. Sie ist nicht mehr die Krankenschwester mit den roten Haaren. Ich vergesse, beim Abschied nach ihrem Namen zu fragen. Ich nenne sie Feuerwehrfrau, weil sie selbstverständlich für das mögliche Wasser sorgt.
Der Kreislauf der Natur setzt mir zu
Ich blicke zu meiner Eiche, aber sie reicht mir nicht mehr. Sie stört mich. Der Kreislauf der Natur setzt mir zu. So wie die Reaktionen auf unseren Familienausflug damals meinem Opa zugesetzt haben mussten. Mit der Lebenskraft des 22-jährigen jungen Mannes, der er war, als er Ullersgrün verlassen musste, erzählte mir mein 82-jähriger Opa von seiner Jugend, wie sie auf selbstgebauten Brettern Skifahren waren und wer wo arbeitete und wohnte.
Als wir in Ullersgrün ankamen, standen da nur verwachsene Ruinen und verlassene Häuser. Die wenigen bewohnten Häuser waren verwahrlost und als wir mit dem deutschen Nummernschild vor den Häusern hielten, hörten wir wie Fenster zugeschlagen, Rollläden geschlossen und Türen verriegelt wurden. Von dieser Wahrheit unberührt blieb Ullersgrün in der Realität meines Opas bis zu seinem Tod und vielleicht darüber hinaus seine wahre Heimat.
Die Quelle seiner Kraft, mit der er den Krieg, die Zeit danach meisterte und die Verantwortung und Liebe für ein neues Leben aufbrachte. Realität und Wahrheit ist in den wenigsten Fällen identisch.
Sternenkinder und Sternenstaub
Bald müsste Tristan zurück sein. Er ist gefahren, um alles zu holen, was sich innerhalb der wenigen Stunden zwischen der Entscheidung und der Handlung organisieren ließ: Kerzen mit Gravur von Finnas Cousine, weil wir den Kopfumfang nicht einschätzen können verschiedene Größen an Strickmützchen von ihrer Tante, ein besticktes Kissen von ihren Großeltern und Blumen.
Bis Tristan zurück ist, blättere ich in der Broschüre, die mir die Feuerwehrfrau überreicht hatte, und stutze bei dem Begriff Sternenkinder. Die Krankenschwester hatte ihn auch verwendet. Vielleicht hatte ich ihn mal gehört, aber ich hätte ihn auch mit Sternsingern verwechseln können.
Unter dem Begriff steht die Erklärung. Der Wortschöpfung liegt die Idee zugrunde, dass alle Kinder, die vor, während und kurz nach der Geburt sterben, „im Himmel sind“ (= sinnbildlich die Sterne) „noch bevor sie das Licht der Welt erblicken“.
Wie schön und wie wichtig, aber leider glaube ich nicht. Nicht im religiösen Sinne. Für mich hat der Begriff keine Bedeutung. Ich stehe auf, gehe wieder zum Fenster und verlange doch wieder von meiner Eiche Unterstützung. Als gäbe es Wunder, erlange ich beim Betrachten der tanzenden Eichenblätter die Erkenntnis: Die Chemie erklärt mit Photosynthese wie Pflanzen uns als Teil des Kreislaufes mit Sauerstoff versorgen. Während sich ein Vogel in den Himmel aufmacht, denke ich darüber nach, dass sämtliche Menschen, die je gelebt haben und leben, denselben Blick auf die Sterne haben, nur Finna nicht.
Da fällt mir mein Physikunterricht ein. Wir sind Sternenstaub. Eine Sekunde nach dem Urknall vor 13,7 Milliarden Jahren gab es bereits die ersten kosmischen Bausteine. Diese Wasserstoff- und Helium-Gaswolken bildeten die ersten Sterne. Am Ende seiner Lebenszeit wird ein Stern zur Supernova und explodiert. Aus Resten der Explosionen entstehen neue Himmelskörper und jegliche Objekte im Universum. Verfolgt man diese Metamorphose weiter, landet man irgendwann beim menschlichen Leben. Bei dem Kind im Mutterleib. Bei Finna in mir. Müssen wir uns vom Leben verabschieden, werden wir wieder zu Sternenstaub. Kein Atom im All geht jemals verloren. Aus dem, was war, was ist und was sein wird, entsteht im ewigen Kreislauf des Werdens, Vergehens und Neuwerdens neue Materie. Ich lächle, Chapeau, meine liebe Eiche. Meine Tochter ist der Zellhaufen eines Sternenkindes.
Spätarbort
Mir wird schwarz. Ich rutsche am Fenstersims hinunter und finde mich sitzend vor der Heizung unter dem Fenster wieder. Finna muss sterben, um ein Sternenkind zu sein. Sie stirbt bereits. Jetzt heißt ihr Tod in der Medizin nicht mehr Frühabort, sondern Spätabort, weil sie 20 Schwangerschaftswochen alt ist.
Im Alltag würde nicht nur das Töten, sondern auch ihr Tod Abtreibung heißen, weil wir es entschieden haben. Aber nach dem dritten Monat ist eine Abtreibung verboten, es wird der Begriff Schwangerschaftsabbruch verwendet, wenn er medizinisch begründet ist.
Ich will verschweigen, dass dieser Begriff automatisch dazu führt, dass wir oder ich eine Straftat begehen. Eine Straftat, die zumindest heute in Deutschland kein Gefängnis oder sonstige Strafe nach sich zieht, aber eine Straftat bleibt.
Im Gegensatz zum Gesetzgeber und zur Medizin macht der Alltag bei Finna eine Ausnahme. Ihr Tod heißt nicht Schwangerschaftsabbruch, weil die Natur sich ebenfalls dafür entschieden hat. Daher nennt der Alltag ihren Tod Fehlgeburt. Ich bin froh, dass sie zumindest in der Gesellschaft kein Abbruch oder das Objekt einer Straftat sein muss, aber um ehrlich zu sein weckt auch der Begriff Fehlgeburt meine Beschützerinneninstinkte. Fehlgeburt? Von Fehler? Ist Finna ein Fehler? Was soll an ihr fehlerhaft sein? Sie lebte nicht nur, was schon ausreicht, um kein Fehler zu sein. Sie kämpfte. Die Fruchtblase ist geplatzt. Was kann sie dafür? Gedankenchaos. Stopp.
Wen kümmern die unterschiedlichen Namen für den Tod ein und desselben Lebewesens? Mich. In drei Wochen würde der Name ihres Todes der Wahrheit entsprechen: Totgeburt. Diese, die einzige Bezeichnung, die vermag, die Bedeutung wieder zu geben, würde in der Medizin und im Alltag für ihren Tod erst dann verwendet werden, wenn sie selbstständig lebensfähig gewesen wäre, um die 23. Schwangerschaftswoche. Aber welcher lebensfähige Säugling kann bitte allein, ohne Eltern und manchmal Medizin, überleben?
Warum Schuldgefühle
Ich winde mich zur Seite und ziehe mich an der Heizung nach oben. Trotz der Schwindelsterne schaffe ich es zu meinem Krankenhausbett und greife nach dem Apfelsaft. Nach der halben Flasche spüre ich wieder Energie und gehe zum Fenster. Es dämmert. Ich schließe die Augen und sauge die frische Abendluft ein. Mein Kreislauf ist wieder in Ordnung, aber mir ist schlecht. Dieses Schlechtsein, welches ich nur von Schuldgefühlen kenne. Schuldgefühle gegenüber meiner Tochter. Als jüngste Tochter hat sich meine Familie immer um mich, das Nesthäkchen, gekümmert. Nun bin ich seit Wochen Mutter. Aber was für eine? Ich muss Finna gerecht werden.
Ich öffne die Augen und lasse meinen Blick an der Eiche von oben nach unten wandern. Woher nimmt sie ihre Kraft? Von ihren Wurzeln. Meine Wurzeln, meine Großeltern sind gestorben, als ich jung war. Aber allein die Erinnerung an ihre stoische Lebensenergie regt etwas in mir an.
Und ob meine Vorstellungen von ihrem Leben der Wahrheit entsprechen oder nicht, ihre Gene und Überzeugungen helfen mir in meiner Realität. Die Stärke, die sie ihr Leben lang bewiesen haben, muss ich lernen zu verstehen. Beim Blick auf die Eiche spüre ich meine Wurzeln wie nie zuvor. Obwohl ich zu meinen Wurzeln nie eine Verbindung hatte. Viel zu weit weg. Aus einer anderen Zeit. Selbst als wir den Familienausflug nach Ullersgrün machten.
Natürlich habe ich seit ich mich erinnern kann wahrgenommen, wie mein Vater und meine Großeltern untereinander einen anderen Dialekt sprachen. Aber in Schwaben variiert der Dialekt von Gemeinde zu Gemeinde und wir haben Familie in Oberbayern, sodass mir die Bezeichnung Egerländisch nicht weiter auffiel.
Mein Aussehen haben viele dem slawischen Osten, dem sogenannten „Ostblock“, zugeordnet. Die markanten Wangenknochen, der große, runde Kopf. In Diskotheken, in denen viele Menschen mit russischem Hintergrund verkehrten, sprachen mich viele auf Russisch an und glaubten mir nicht, wenn ich sagte, dass meine Vorfahren Deutsche seien.
Wenn wir während des Studiums feierten und Becherovka tranken oder ich irgendwo Oblaten sah, insbesondere die rosafarbene Verpackung von Wetzel Karlsbader, dann kamen in mir Heimatgefühle auf. Einfach weil es sich um den Geschmack und Geruch meiner Kindheit bei meinen Großeltern handelte. Mehr fiel mir zu meinen Wurzeln nie ein. Bis jetzt.
Sternenkinder der Vorfahren
Jetzt denke ich daran, wie viele Sternenkinder meine Vorfahren wohl gehabt haben? Wie viele namenslose Kinder? Von wie vielen Sternenkindvorfahren weiß ich nichts?
Jene Generation hatte weder Zeit noch Raum zu jammern. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg gab es sicher keine Feuerwehrfrau, die einem im Krankenhaus Händchen hielt. Mit Blick auf die Weltwirtschaftskrise 1929, die mein Opa erlebte, wiederholte er immer: „Nur was du im Kopf hast, kann dir keiner nehmen.“
Um Geld habe ich mir trotz der vielen Bettruhe wegen der Risikoschwangerschaft keine Sorgen zu machen brauchen, obwohl ich über Wochen nicht arbeiten ging. Sie hingegen wurden zum Krieg verdammt. Sie wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Mit 40 DM mussten sie, als Flüchtlinge bezeichnet, einen Platz in der Gesellschaft finden. Ich dagegen brauche nur mein Smartphone zu bedienen und für jedes Bedürfnis oder Probleme findet sich eine Lösung.
Sie konnten sich vom Kreislauf der Natur nicht aus der Bahn werfen lassen. Meine Großtante, 1932 geboren, verlor ihr Kind am errechneten Geburtstermin wegen einer Nabelschnurumschlingung. Außer dem Arzt sprach niemand mit ihr darüber und dieser meinte: „Nicht weinen, nicht daran denken, sonst klappt es beim nächsten Mal auch nicht.“
Noch immer ist es ein Tabuthema, dennoch kann ich mit meinem Mann, mit vielen aus meiner Familie und Freunden über meine Tochter sprechen. Es gibt Broschüren, Informationsstellen, Beratungsstellen und professionelle Unterstützung. Meine Großeltern jammerten trotz allem nie.
Mein Opa sägte sich beim Holzmachen den Finger ab, woraufhin meine Oma meinte, er solle den Finger suchen, in den Kühlschrank packen, wegen Regen müsse das Holz erst fertig gemacht werden, bevor sie ihn ins Krankenhaus fuhr. Sie selbst hatte noch all ihre Finger in der Tür, als mein Vater die Autotür zuschlug. Sie verzog keine Miene, straffte ihre Handtasche und stolzierte erhobenen Hauptes mit tieflilablaugrünfarbenen Fingern davon.
In den 60er-Jahren nahmen sie eine Familie aus der Türkei auf. Nicht als Mieter, sondern als Familienmitglieder, weil sie selbst wussten, wie es ist, im neuen Zuhause fremd zu sein. Als sie später Zeit und Raum zum Jammern gehabt hätten, wollten sie ihre kostbare Lebenszeit nicht damit verschwenden, sondern spielten und lachten mit ihren Kindern und Enkelkindern. So wie es sich für Eltern gehört.
Jede Träne und jedes Lächeln würdigen ihre Bedeutung
So wie es sich für mich gehört, mich über Finnas Leben zu freuen, egal wann es beginnt und endet. Finna machte ihren Wurzeln alle Ehre. Voller Kraft ließ sie sich nicht unterkriegen, bis zur letzten Möglichkeit.
Jeder depressive Gedanke löste in mir ein schlechtes Gewissen aus, als würde ich nicht nur meine Vorfahren entwürdigen, sondern auch meine Nachfahrin. Meine Tochter. Aber jede Träne und jedes Lächeln würdigt ihre Bedeutung. Die Natur streicht zwar die Besetzung in meinem Lebenstheater, aber meine Tochter hat ihr eigenes Drehbuch und ihren Einfluss auf andere Lebenstheater, nicht nur auf meins, kann die Natur ihr und auf die sie Einfluss hat nicht entreißen.
Dabei muss die Realität nicht mit der Wahrheit übereinstimmen. Es reicht, Teil von ihr zu sein. In Wahrheit schöpfe ich als Teil der Natur nicht nur aus meinen Wurzeln Lebenskraft, sondern auch aus meiner Tochter. Dem immerzu anklopfenden Tod bin ich dankbar, denn er verleiht dem Leben seinen Wert.
Mittlerweile ist es um die Eiche ruhig geworden. Die Sonne ist untergegangen. Einzelne Sterne erleuchten den dunkelgrauen schattierten Himmel. Diese goldenen Punkte lassen mich zuversichtlich auf den Kreislauf der Natur blicken. Sinnbildlich auf meine Eiche. Nur ihre Silhouette ragt als Schattenbild empor.
Perspektivwechsel
Als Physiklehrerin weiß ich, dass die Sonne nicht untergeht, durch die Rotation wechselt nur die Perspektive auf sie. Perspektivwechsel ist auch geistig und emotional die Chance gegen Dunkelheit und die Ursache für die goldene Energie meines Sternenkindes. Bei diesen Gedanken komme ich mir naiv vor, wenn ich daran denke, wie ich meinen Opa vor den Bezeichnungen für seine Heimat schützen wollte. Als könne er seine Heimat verlieren und ich die Wahrheit kontrollieren. Wen kümmern verschiedene Namen, die doch nur Kombinationen aus Buchstaben sind? Egal, welche Namen Finnas Leben und Tod trägt, keine Realität kann den Kreislauf der Natur mit seiner Wahrheit ändern: Wir verabschieden unser Kind und leben mit einem Sternenkind.
Ich bin Tanja
Mein Name ist Tanja. Als Autorin, Lektorin und Mutter von vier Kindern trete ich unter meinem Mädchennamen Tanja Wirnitzer auf. Als Lehrerin nutzte ich meinen Familiennamen Tanja Kleinheinz.
2018 habe ich mein erstes und 2019 mein zweites Kind tot zur Welt gebracht. 2021 hat habe ich mein drittes und 2022 mein viertes Kind lebend zur Welt gebracht.
Ich stelle die Fragen: Ab wann beginnt menschliches Leben? Ist töten immer falsch? Kann der Tod von Kindern zu Kraft und Vertrauen führen – dem Leben einen Sinn geben?
Ich führe viele intensive Gespräche mit mehreren Generationen in Deutschland und meinem aktuellen Wohnort China, im Februar auch in Simbabwe.
Ab 2024 finden sich dazu Artikel auf meiner Webseite sternenkinder.org. Für den Dialog über den frühsten Tod schreibe ich ein Buch und veröffentliche eine jährliche Fotoaktion auf Instagram, indem ich Fotos von Füßen im Himmel für die Spuren von verstorbenen Kindern im Leben teile #walkofimpact.
Tanja Wirnitzer
Tanja ist Mutter zweier Sternenkinder und zweier Kinder an der Hand. Sie engagiert sich auf Sternenkinder.org dafür, die Spuren unserer Sternenkinder nicht zu ignorieren.
Alle Geschichten im Adventskalender 2023
An dieser Stelle werde ich alle bereits veröffentlichten Geburtsgeschichten des Adventskalenders 2023 auflisten. Aus technischen Gründen kann das ein paar Tage dauern. Du findest aber auch alle Geschichten hier.
- Michèle: Elisas Hausgeburt
- Lea: Beckenendlagengeburt nach erfolgloser Äußerer Wendung
- Manon: Hausgeburt von Claire
- Sarah: Hausgeburt von Max Benedikt
- Barbara: Ungewollter Kaiserschnitt
- Wanda: 103 Stunden Geburt
- Anna: Anouks Geburt im Geburtshaus mit Notfallverlegung
- Anne: Kaiserschnitt nach Schwangerschaftsdiabetes und erfolgloser Einleitung
- Martina: 2 mal Kaiserschnitt, VGA2C, Hausgeburt
- Bea: Aufgeben ist nicht das Ziel
- Gerit: Im Krankenhaus gibt’s keine Decken
- Verena: Persönlichkeitsentwicklung hoch Drei
- Julias Sternenkind: Geburt zuhause
- Marion: Loreley wurde tot geboren
- Maranda: Today my baby will be born
- Natalie: Hausgeburt einer Sternenguckerin
- Natalie: Mit Kaiserschnitt im Reinen
- Magdalena: Hingabe an den weiblichen Körper
- Sabine: versöhnliche Krankenhausgeburt nach außerklinischen Geburten
- Patricia: Hausgeburt im Wasser oder an Land?
- Stefanie: Dominik lebte nur fünf Tage
- Melissa: Wenn das Körpergefühl verschwindet
- Laura: Alleingeburt nach Kaiserschnitt
- Tanja: Der Kreislauf der Natur
- Bonus: Maria: Ungeplante Alleingeburt
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Katharina Tolle
Wie schön, dass du hier bist! Ich bin Katharina und betreibe seit Januar 2018 diesen Blog zu den Themen Geburtskultur, selbstbestimmte Geburten, Geburtsvorbereitung und Feminismus.
Meine Leidenschaft ist das Aufschreiben von Geburtsgeschichten, denn ich bin davon überzeugt, dass jede Geschichte wertvoll ist. Ich helfe Familien dabei, ihre Geschichten zu verewigen.
Außerdem setze ich mich für eine selbstbestimmte und frauen*-zentrierte Geburtskultur ein. Wenn du Kontakt zu mir aufnehmen möchtest, schreib mir gern!